...
Lou las zum hundertsten Mal das kleine Briefchen, das am
Nachmittag unter ihrer Zimmertür durchgeschoben worden war.
Kommen Sie in der Dämmerung zum Löwendenkmal,
stand darin. Auch ohne das Kürzel F. N. darunter hätte
sie keinen Zweifel am Urheber gehabt.
Inzwischen
war ihre kleine Reisegruppe in Luzern angekommen. Sie hatten
sich einen friedlichen gemeinsamen Stadtbummel gegönnt,
besagtes Denkmal inbegriffen. Paul und ihre Mutter waren
schon weiter spaziert, während Nietzsche die Stimme senkte
und ihr zuraunte, der Löwe wäre das wahre Symbol ihres Charakters.
Schon auf dem Gipfel des Orta hatte er sie mit einem Adler
verglichen und so schmeichelhaft das sicher auch gemeint
war - diese ganze Tiermetaphorik wurde ihr einfach zuviel.
Und nun? Sollte sie der Aufforderung nachkommen? Welche
Inszenierung würde jetzt folgen?
Sie
starrte ungläubig auf den knienden Nietzsche. Sie war versucht,
ganz undamenhaft mit dem Fuß aufzustampfen und noch viel
undamenhaftere Worte in ungebührlicher Lautstärke auszustoßen.
»Bitte, Professor, stehen Sie doch auf!« Sie
öffnete die oberen drei Knöpfe ihres Stehkragens. Der Gelehrte
hatte kaum Zeit, sein derangiertes Äußeres zurechtzurücken,
als Lou ihn schon mit einem deutlichen »Nein!«
konfrontierte.
»Wie kommen Sie eigentlich dazu, mich in eine so unangenehme
Lage zu bringen? Ich hatte Ihre Frage bereits in Rom eindeutig
beantwortet!«
Nietzsche setzte zu einer Erwiderung an, krächzte etwas
Unverständliches, räusperte sich, schluckte und sagte schließlich:
»In Rom hatte ich uns keine Zeit zum gegenseitigen
Verstehen gelassen. Aber jetzt, nach der beglückenden Wanderung
auf den Orta, nach all der Übereinstimmung, nachdem wir
beschlossen haben, gemeinsam den Weg zu gehen, da hielt
ich den Zeitpunkt für gekommen, Ihnen nochmals diesen Vorschlag
zu unterbreiten.«
»Vorschlag? Einer Frau die Ehe anzutragen, nennen
Sie einen Vorschlag?«
Der Professor schien Interessantes auf seinen Schuhspitzen
entdeckt zu haben, strich abwesend sein Haar nach hinten
und warf schließlich einen kurzen Seitenblick auf die junge
Frau vor ihm. »Ich habe keine andere Möglichkeit gesehen,
unsere Gemeinschaft fortzusetzen. Auf meinen neuen Wegen
kann ich nicht auf Sie verzichten.«
»Sie haben wahrhaftig neue Pfade aufgezeigt, Professor.
Aber wollen Sie Ihre schöne neue Welt gleich wieder mit
alten Konventionen verderben? Soll Ihr Löwe einen Maulkorb
tragen? Wollen Sie Ihrem Adler die Flügel stutzen?«
Er reichte Lou seine Hand, die sie gleich ergriff und sein
Lächeln erreichte ihr Herz. »Ich mache Ihnen einen
Vorschlag, der Ihnen sicher besser gefällt. Für den Sommer
werde ich mein Domizil in Tautenburg aufschlagen, ein idyllisches
und angenehm ruhiges Dorf. Wenn es Ihre zukünftigen Pläne
zulassen, würde ich Sie dort gern als meinen Gast begrüßen.
Wir hätten genügend Muße für weitere gemeinsame Studien.
In dem Ort gibt es eine Reihe adretter Fremdenzimmer. Sie
könnten sich beim Pfarrer einquartieren, wo auch meine Schwester
wohnen wird, um in Ruhe ihre Novellenpläne verwirklichen
zu können. Was sagen Sie zu diesem Arrangement?«
»Dazu sage ich von Herzen gern ja, Professor. Ihr
Vorschlag ist ganz nach meinem Geschmack.«
...
Dieselbe
Autorin hat einen weiteren interessanten Text für die
Anthologie verfasst:
G
a r t e n g e s p r ä c h
von A n d r e a K i e n i t z
2005
© by Andrea Kienitz
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