DIE MARABOUT-SEITE
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Chronik (1901-2019)

Zur Sozial- und Literaturgeschichte Afrikas * von innen und außen 

Tageschronik: 22. April 2001

 

· Die MARABOUT-SEITE zitiert aus Südafrika · 
Mail & Guardian, South Africa


"It's a blackboard bungle" [1]

Schritte des Bildungsministerium gegen bestimmte literarische Werke in Südafrikas Provinz Gauteng provozieren einen Aufschrei. In einem Artikel in der Sunday Times fragt der südafrikanische Autor und Journalist Mike Nicol, wie weit diese Entwicklung noch von einem allgemeinen Bücherverbot entfernt sei.

"Als ich zunächst davon las, dass Gautengs Lehrer einige Bücher von den Leselisten der Schulen gestrichen hätten, lachte ich. ... Als aber die Medien begannen diese Geschichte breit zu treten, hörte ich zu lachen auf." Mike Nicol berichtet in ironischer Weise von dem Beispiel der Kritik eines Kunstwerks, das "nicht afrikanisch genug" sei.

"Wenn Staatsdiener beginnen sich in Literatur und Kunst einzumischen, betreten wir gefährlichen Grund, wie unsere Geschichte eindringlich zeigt.", so der Autor. Mike Nicol weist darauf hin, dass das alte Zensurgesetz nach der Wahl von 1994 durch ein geschütztes Recht auf Meinungsfreiheit ersetzt worden und bis heute nur ein Zusatzartikel hinzugefügt worden sei, der es der Regierung erlaubt, Beschwerde zu führen oder eine Klage einzureichen gegen Inhalte, die sie für anstößig hält.

Jahrzehnte hat die Regierung der  National Party diktiert, was "unerwünscht" und "nicht unerwünscht" sei und niemand wünscht eine Rückkehr zu solchen Tagen. "Doch dies ist der Geist, den Lehrer und Yengeni gerufen haben ..."

Was am meisten Sorge bereitet in der Erklärung der Staatsprüfer, ist ihre Behauptung, Nadine Gordimers Roman "July's People" sei "zutiefst rassistisch, überlegen und herablassend". Nicol sagt, er wisse nicht, was sie mit "überlegen (superior)" meinten, aber zu sagen das Buch sei "rassistisch" oder "gönnerhaft herablassend" ist eine absichtliche Missdeutung des Buches. "Hier werde ich an eine andere absichtliche Missdeutung eines kürzlich erschienen Romans erinnert, und in diesem Fall waren die Interpreten   ANC-Funktionäre und der Roman war J. M. Coetzees  Schande."

In ihrer Eingabe zu den Anhörungen der Menschenrechtskommission zu Rassismus in den Medien zitierten die ANC-Kompilatoren eine Diskussion zwischen zwei Figuren des Romans Schande, Lucy und ihrem Vater David. Diese Unterhaltung geschieht ... nachdem sie von drei Schwarzen auf ihrer Farm vergewaltigt worden war, obwohl die ANC-Analytiker zu verstehen geben, die Szenen seien in sich schlüssig.

"Es war so persönlich", sagt sie. "Es wurde mit so viel persönlichem Hass gemacht. Das hat mich mehr erstaunt als alles andere. Der Rest war wie erwartet. Aber warum hassten sie mich so? Ich hatte sie nie vorher gesehen."

"Die Geschichte sprach durch sie," sagt er schließlich. "Eine Geschichte des Falschen. Denk dir das so, es hilft. Es mag persönlich ausgesehen haben, aber das war es nicht. Es wurde von den Ahnen überliefert."

Um mit dem umzugehen, was ihr passiert war, tat Lucy zweierlei Sachen: als sie bemerkte, dass sie von den Vergewaltigern geschwängert worden war, behielt sie das Kind; und sie ging einen Bund mit einem der schwarzen Farmarbeiter ein, um die Landfrage zu klären.

Lucy wird mit den Worten zitiert: "Ja, ich finde, es ist erniedrigend. Aber vielleicht ist es ein guter Punkt von vorne zu beginnen. Vielleicht ist es das, was ich zu akzeptieren lernen muss. Vom Punkt Null zu starten. Mit nichts. Keine Karten, keine Waffen, kein Eigentum, keine Rechte, keine Würde.

"Wenn das nicht für einen pragmatischen, wenn auch sentimentalen, Versöhnungsversuch spricht, was dann?!", sagt Mike Nicol.

Aber die ANC-Eingabe interpretiert diese Szenen irgendwie anders: "In dem Roman präsentiert J. M. Coetzee so brutal wie möglich die Wahrnehmung der Post-Apartheid-Schwarzen durch die Weißen... es wird unterstellt, dass unsere weißen Landsleute unter diesen Umständen besser emigrieren sollten, weil im Post-Apartheid-Südafrika zu sein, heiße in 'deren Territorium', was bedeutete dass die Weißen ihre Karten verlieren würden, ihre Waffen, ihr Eigentum, ihre Rechte, ihre Würde. Die weißen Frauen würden mit den barbarischen schwarzen Männern schlafen müssen."

Die Sunday Times zitiert weiter: "Demzufolge ist die angebliche Abwanderung von weißen Wissenschaftlern wie verlautet ganz in Ordnung und erhält auch noch die nötige Hervorhebung. J. M. Coetzee vermittelt, dass fünf Jahre nach unserer Befreiung das Denken der weißen Gesellschaft Südafrikas weiterhin von eigentümlichen Klischees über die Afrikaner geprägt ist ..."

Die entscheidende Frage ist die Manipulation von Literatur und Kunst für politische Ziele, sagt Mike Nicol und fragt: "Wenn die Zensur ihre Nase in die Schulen steckt, kann dann ein allgemeines Bücherverbot noch weit entfernt sein?" Bestenfalls könnten wir, schließt er seinen Artikel, von unzusammenhängenden eigensinnigen Kommentaren sprechen, "aber davon bin ich nicht überzeugt". (SundayTimes SA, ÜEK: J.K.)

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Anmerkungen:
* inkl. arabischer Raum
1) Der genaue Sinn des Ausdrucks "blackboard bungle" im Titel erschliesst sich in der wörtlichen Übersetzung "(Schul)TafelPfuscherei / Stümperei / pfuschen" nicht. Nachdem weder "native speaker" noch Idiom-Listen Aufklärung gebracht haben, bitte ich die Besucher um Mitarbeit: Wer kann das Sprachrätsel lösen, ist hier ein neues Idiom im Entstehen? Informationen darüber bitte an redaktion@marabout.de [J.K.]
ÜEK: J.K. --> Aus dem Englischen Übersetzt und kommentiert: Janko Kozmus ©

Quelle:
Sunday Times, South Africa (SundayTimes SA)


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