DIE MARABOUT-SEITE
Linie

Linie
Linie
CALVINO: DIE UNSICHTBAREN STÄDTE
Rezension: Italo Calvino - Die unsichtbaren Städte

Von der Schönheit des Anderen

Wir schreiben das 13. Jahrhundert. In den unsichtbaren Städten aber spielt die Dimension der Zeit keine oder eine untergeordnete Rolle. Marco Polo, der Venezianer verweist den Eroberer Kublai Khan auf das Verborgene der gewonnenen Schätze, lenkt ab vom Gedanken der Angst, das Reich könne vor vollständiger Entfaltung bereits zerfallen. Er hebt Ungewöhnliches hervor, deutet auf blühende Keime neuer Städte in den alten, auf feinste Risse in der Oberfläche, »auf das Filigran einer Anordnung in den Städten, die so subtil ist, dass sie dem Biss der Termiten entgeht«. Indem er dies tut, erzählt er immer auch von Venedig. Die Lagunenstadt dient ihm als Schablone. An seiner Heimatstadt misst er das Neue, das Unsichtbare, das entdeckt werden will, das sich dem Erkennen widersetzt oder allzu schnell anbietet und bei näherem Hinsehen als Täuschung, als Unfertiges, als Unvollendetes erweist.

Persönliche Empfindung begleitet die Sicht, die Perspektive des Eintritts in die verborgenen, die andauernden, die subtilen Städte und wie sie noch alle heißen. Sie gestaltet das Vorgefundene mit: »Auf zweierlei Art kommt man nach Despina: mit dem Schiff oder mit dem Kamel. Die Stadt zeigt sich verschieden, kommt man vom Land oder vom Meer«.

Marco Polo bereist die Städte und beschreibt sie dem mongolischen Eroberer, der dessen Berichte allen anderen vorzieht. Ihre Gespräche sind von einem gemeinsamen Geist durchdrungen. Gleichzeitig bleibt der Groß-Khan misstrauisch, hinterfragt den Venezianer: »Gib zu, was du einschmuggelst: Gemütsverfassungen, Gnadenzustände, Elegien!« Immer wieder der Gedanke an Untergang, an Tod.

Die Struktur des Romans Die unsichtbaren Städte verleitet den Leser, die ohnehin nur lose verankerte Chronologie zu ignorieren und diesen als einen einzigen Dialog zu verstehen. So gesehen erscheinen die Berichte von den Städten mit Namen leicht wie Papierdrachen - Olinda, Despina, Enfemia, Endossia, Fillide, um nur einige zu nennen - als Einschübe, als bloße Bemühungen, den seines Ziels beraubten, also von Leere ergriffenen Herrscher vor dem inneren Tod zu bewahren. Folgt man dieser Sicht, wäre der Venezianer gut beraten, die Beschaffenheit des Reiches, sein Inneres, die Städte im hellsten Glanz erstrahlen zu lassen. Er tut dies nicht. Seine Beschreibungen sind fein gesponnen, aber niemals euphemistisch. Gleichwohl ist sein letzter Rat von Hoffnung getragen. »Zu suchen und zu erkennen wissen, darauf komme es an, wer und was inmitten der Hölle nicht Hölle ist, und ihm Bestand und Raum geben.« Generell will es jedoch scheinen, als würden die Städte selbst, ihre in der Andersartigkeit suggestive Kraft Marco Polos Sicht bestimmen, sein Urteil diktieren.

Download
PDF-Datei
Von der Schönheit ...
RTF-Datei

Das Buch Die unsichtbaren Städte des 1985 verstorbenen Italieners Italo Calvino stellt keine leichte Lektüre dar. Nur größte Aufmerksamkeit erfasst die Feinstruktur des Textes. Bringt der Leser diese auf, wird er reich entschädigt.

(Originaltitel: »Le città invisibili«)

10/2002 © by Janko Kozmus

Weitere Rezensionen zu italienischen Autoren auf der Marabout-Seite:

Fruttero & Lucentini: Die Eule der Minerva oder Potemkinsche Dörfer (zu: Der rätselhafte Sinn des Lebens)

Tommaso Landolfi: Die Krebskönigin! (zu: Cancroregina)

Guido Morselli: Karpinsky hilf! (zu: Dissipatio humani generis)

Guido Morselli: Vom Ende des zwanzigsten Jahrhunderts (zu: Rom ohne Papst)

Guido Morselli: Abenteuer und Politik! (zu: Licht am Ende des Tunnels)

linie