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Khadra: Die Attentäterin
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Rezension: → Yasmina Khadra - Die Attentäterin

Das neue Attentat

Im Jahre 2000 geht Yasmina Khadra mit seiner Familie nach Frankreich ins Exil. Einige Monate später enthüllt er mit der Publikation seines autobiografischen Werkes L'Écrivain seine wahre Identität. Als Offizier der algerischen Streitkräfte war er persönlich am Kampf gegen die Islamisten in Algerien beteiligt, allerdings unter seinem bürgerlichen Namen: Mohammed Moulessehoul. Erfahrungen, die eingeflossen sind in sein Schreiben, mit am beeindruckendsten m. E. in den Roman Wovon die Wölfe träumen. Auch mit dem folgenden, dem ersten in der Emigration geschriebenen Roman Die Schwalben von Kabul bleibt der Autor seinem Thema treu, dem islamischen Fundamentalismus an seinen extremen Polen. Mit dem neuen Roman Die Attentäterin jedoch verfolgt er eine andere Absicht, wie er anlässlich einer Lesung in Berlin betont. Ziel war es, vom palästinensischen Widerstand zu schreiben. Seinem Bericht nach seien erste Reaktionen auf die französische Publikation - wie könnte es anders sein - unterschiedlich ausgefallen; sie bestätigen ein altbekanntes Muster, demzufolge des Verfassers Intention in der Rezeption nur wenig zählt.

Ob und inwieweit es sich in Die Attentäterin um eine vorwiegend politisch oder religiös motivierte Gewalttat handelt, mag der Leser nach der Lektüre selbst entscheiden, weltanschaulich motiviert ist sie allemal, wie auch in dem bereits erwähnten in Khadras algerischer Heimat handelnden Roman Wovon die Wölfe träumen. Darin wird die Innenansicht eines Gewalttäters durchleuchtet, während der Autor im vorliegenden Buch versucht, sich dem Gewalttäter, hier ist es eine Frau, durch die Vertrautheit zu einer geliebten Person zu »nähern«. Dass ein solcher »Annäherungsversuch« nicht ohne Schmerzen vonstatten geht, beschreibt Yasmina Khadra präzise und einfühlsam. Das ist der stärkste Teil des Romans. Das mit großer emotionaler Nähe erzählte Mittelstück legitimiert die Entscheidung für einen Ich-Erzähler. In ihrer vollkommenen Stimmigkeit ist diese Figur in ihren Zweifeln, ihren Leiden und in ihrer Hilflosigkeit nachfühlbar gestaltet für den Leser, der sich ohnehin einer permanenten Beklemmung ausgesetzt sieht durch die den Kapiteln voran gestellte Passage, in welcher der Ich-Erzähler nach einem Bombenanschlag für tot liegen gelassen wird. Eine Umklammerung, die den Leser bis zuletzt gefangen hält.

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VERFILMUNG DES ROMANS:
DIE ATTENTÄTERIN

Amin Jaafari ist ein erfolgreicher Arzt, auch unter seinen israelischen Kollegen anerkannt, was für einen israelischen Araber in Tel Aviv keine Selbstverständlichkeit ist. Nun ist er, der Ehemann der - für ihn zunächst potentiellen - Attentäterin dem physischen und psychischen Zusammenbruch nahe. Wie kann es sein, dass eine ebenfalls respektierte, ja sogar von ihren in erster Linie jüdischen Freunden geliebte, dazu noch außerordentlich schöne Frau sich der Ideologie der Selbstmordattentäter hingibt? Welche Verletzungen hat sie erlitten, von denen er, Amin, der sich ihr so nahe fühlt wie kein anderer Mensch, nichts weiß? Oder gibt es jemanden, vielleicht einen anderen Mann, der seine Frau Sihem besser als er selbst kannte, ihr näher stand? Zweifel, dessen nagende Nähe sich auch auf den Leser überträgt.

Vor diesen Zweifeln steht das Nicht-glauben-Können des Ich-Erzählers. Den ersten Kapiteln scheint die erzählerische Tiefenschärfe noch zu fehlen, die die nachfolgenden auszeichnet. Doch bei näherem Hinsehen entpuppt sich diese Erzählweise als ein adäquates Stilmittel. Der Protagonist befindet sich im Schockzustand. Er ist gelähmt, ein wahres Fühlen ist ihm verwehrt, die platt erscheinenden Dialoge, das robuste, an Hollywoodthriller erinnernde Auftreten von Hauptmann Moshe und seinen Männern haben den Filter geistiger Abwesenheit durchlaufen. Selbst alltägliche Verrichtungen sieht sich der Betroffene außerstande zu erfüllen. In diesem Stadium betritt eine alte Freundin den Schauplatz, sie geleitet den Geschockten über weite Strecken des Romans, und es ist Yasmina Khadra hoch anzurechnen, dass er der Versuchung widersteht, eine tröstende Liebesromanze einzuflechten, er vermeidet auch jegliche dahin gehende Anspielung. Die Figur der Freundin und Arztkollegin Kim Yehuda ist als eine sensible Person angelegt, die für ihren Freund da ist, ohne etwas dafür zu erwarten.

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In den letzten Abschnitten dann, in der persönlichen Suche nach konkreten Beweisen und Gründen - die räumliche Bewegung symbolisiert die Überwindung der geistigen Stagnation des Protagonisten - könnte der kritische Leser eine Art von Rechtfertigung, von Legitimation für weltanschaulich motivierte Gewalt argwöhnen. Er trifft mit dem überraschten Protagonisten in den Gassen der autonomen palästinensischen Städte Betlehem und Dschenin und deren Umland auf Menschen, Verwandte, Freunde, Bekannte, aber auch Unbekannte, die durchweg von hohem Respekt für die Selbstmordattentäterin durchdrungen sind. Amin stößt auf wenig Verständnis für sein Bohren und Nachforschen. Er erzeugt Unruhe, wird gar bedroht und zusammengeschlagen. Schließlich mündet die Suche in seiner Kindheit; ein wunderschönes Bild zeigt, wie er sich zu Füßen des Patriarchen niedersetzt, der sich stolz über das von seinem Großneffen Erreichte äußert. Amin trifft auf Verwandte, die er kaum noch erkennt, und er verliert einen wieder, der denselben Weg einschlägt wie Amins Frau Sihem. Unausweichlich tritt der israelische Bulldozer auf den Plan. Machtlos muss Amin mit ansehen wie seine Kindheit zerstört und der Boden für neue Gewalttaten geebnet wird. Diese eine Tat, die seiner Nichte, möchte er verhindern, er folgt ihr, er sucht sie, sicher wird sie beim großen Gebet sein, wenn der Imam, der Scheich kommt. Über der erwartungsfrohen Menge verdüstert sich der Himmel. Es ist nicht lange her, da hat Amin noch gedacht: »Ich glaube, ich bin am Ziel. Der Weg bis hierher war fürchterlich, und ich habe nicht den Eindruck, irgendetwas erreicht, eine wie auch immer geartete erlösende Antwort gefunden zu haben. ... Diese schmerzhafte Wahrheitssuche war meine Initiationsreise.«

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Das neue Attentat
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Ein Teil der Leserschaft werfe ihm vor, sagt Yasmina Khadra am 11.09 in Berlin, mit dem Roman Die Attentäterin die »Sache der Palästinenser« verraten zu haben, während ein anderer Teil behauptet, er rede dem Terrorismus das Wort. Nicht erstmalig fordert der Autor ausdrücklich eine differenzierte Betrachtungsweise ein. Und meint damit in erster Linie den westlichen Blick auf den islamistischen Fundamentalismus im Allgemeinen, der von Vorurteilen getragen sei, bis hin zu der Vorstellung, bei denjenigen, die zum Mittel der Gewalt greifen, handele es sich um primitive, ungebildete Menschen. In Wahrheit sei allzu oft das Gegenteil der Fall. Dieses Buch kann dem Bemühen um Differenzierung insofern zur Seite stehen, als es glaubhaft die Zweifel eines Arabers darstellt, seine Ablehnung dieser Form des Widerstands; bis zuletzt versucht der Ich-Erzähler Amin, das neue Attentat zu verhindern.

(Originaltitel: »L'Attentat«)

9/2006 © by Janko Kozmus

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GRAPHIC NOVEL
DAS ATTENTAT
von: Loïc Dauvillier
u. Glen Chapron
Zur Kurzbeschreibung



Anmerkung:
Moritz Piehler von Spiegel-Online äußerst sich sehr positiv über die Graphic Novel Das Attentat: Der Faden der politischen Analyse werde im Blick behalten. Amin, der Ehemann der Attentäterin werde "auf eine kriminalistische Reise ins Innere dieses so ausweglos erscheinenden Konflikts geschickt und dabei von den Illustratoren mit filmischer Genauigkeit begleitet. Sie beziehen dabei durchaus eindeutig Stellung, ohne die Perspektive der israelischen Figuren aus den Augen zu verlieren. Letztlich bleibt die Erkenntnis, dass es weder dem Protagonisten noch dem Leser möglich scheint, in diesem Konflikt neutral zu bleiben." - Vgl. DER SPIEGEL Online v. (22.05.2014)

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Ein Boxer namens Arthur Rimbaud (zu: Die Engel sterben an unseren Wunden)
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"Mit Raubtierlächeln im Wind" (zu: Die Sirenen von Bagdad)
Madschnun bei den Taliban (zu: Die Schwalben von Kabul)
Die Unantastbaren (zu: Nacht über Algier, Kommissar Llob)
Kommissar Llob-Trilogie, erster Teil (zu: Morituri)
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