Literatur
DIE MARABOUT-SEITE
Linie
EIGENE TEXTE
   ESNA
   BEWEGUNG
Linie

Download
Bewegung
als RTF-Datei

als PDF-Datei

Vom selben Autor:
DER SCHATTEN DES MARABOUTS bei amazon bestellen!

DER SCHATTEN DES
MARABOUTS
bei amazon bestellen!

DER SCHATTEN DES MARABOUTS
bei LIBRI bestellen











Bewegung

Erzählung

Eins der interessantesten Elemente, das Aristoteles in seine Physik aufgenommen hat, sind die Paradoxa des Zenon, die dieser gegen seinen Kritiker Parmenides richtete. Neben anderen gehören dazu auch zwei Paradoxa, die von der kinematographischen Hypothese ausgehen, dass Raum und Zeit aus unteilbaren Mindestgrößen bestehen, aus Raumatomen und Augenblicken.

Im Paradoxon des fliegenden Pfeils zeigt Zenon, dass der Pfeil stillsteht. Denn zu jedem Augenblick verweilt er an einer bestimmten Stelle. Weder bewegt er sich dort, wo er ist, noch wo er nicht ist. Somit bewegt er sich überhaupt nicht.

"Gebt acht, Kinder..." Das sagte sie jeden Tag, seine Mutter. Er hörte kaum hin, dann kam der Zusatz, der ihn beinahe doch noch stutzig gemacht hätte:

"... ich habe von weißen Blumen geträumt!" Was das bedeutete, wusste er längst. Schließlich war er schon fast zehn Jahre alt und seine Mutter klärte ihn regelmäßig über lebenswichtige Zusammenhänge auf, wie diesen: Weiße Blumen sind die Traumboten des Todes, sie bedeuten Gefahr, tödliche Gefahr. Er hat vergessen, ob er dieses eine Mal die Ermahnung der Mutter ernst genommen hat oder ob sie untergegangen war im Wust der ständig mit auf den Weg gegebenen Hinweise zur Kleiderordnung und zur Vorsicht. Am Ende des Tages jedenfalls erinnerte er sich nur allzu gut an diese Warnung, und er würde sie zeit seines Lebens nicht vergessen.

Den Schulweg hätte er im Schlaf bewältigen können. Es galt eine einzige große, verkehrsreiche Straße zu überqueren, der Rest war ein Kinderspiel. Er teilte den Schulweg mit einer Klassenkameradin. Und irgendwie fühlte er sich für sie verantwortlich. Ob er etwas älter war als sie oder ob er ermahnt worden war, als Junge das Mädchen beschützen zu müssen, kann er nicht mehr sagen. Sein Gefühl redete ihm jedenfalls ein, er sei verantwortlich. Unmittelbar umgesetzt, hätte dies bedeuten müssen, die Klassenkameradin an der Hand zu nehmen. Aber das konnte er natürlich nicht, da sie eben ein Mädchen war. So liefen sie einträchtig nebenher, noch etwas müde, die Schulranzen merklich schwer, das Herbstlaub krachte unter ihren Schritten. Eine Abkürzung über eine Wiese und schon war das Gebrause der großen Straße zu hören. Der Lärm bedeutete wie üblich viel Verkehr; die Autos rasten von links und rechts heran, was zu jener Zeit, zu Anfang der 60er Jahre, nur an großen Verkehrsadern der Fall war.

Sie standen an der Straße. Ob in zumutbarer Nähe ein Fußgängerübergang mit oder ohne Ampel war, daran kann er sich nicht mehr erinnern. Vermutlich nicht, sonst hätte er ihn höchstwahrscheinlich benutzt, schon um sich dem Mädchen gegenüber aufzuspielen. So mussten sie eben warten, bis der endlose Verkehrsstrom für einen Moment abriss. Sein ganzer Körper war in einer Spannung, die Warten bedeutete. Doch während er noch ausharrte, war seine Schulkameradin, unbemerkt von ihm, er war seltsamerweise viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, schon losgegangen und als er das realisierte, war folgender Zustand erreicht, den er am besten mit obigem Paradoxon veranschaulichen kann:

Seine Freundin war in der Straßenmitte angelangt und von rechts kam donnernd ein Müllwagen herangefahren. Die drohende Gefahr hatte seine Wahrnehmung aufs Höchste geschärft. Es war, als wäre die Szene zum Standbild gefroren. Er sah seine Freundin in der Mitte der Straße und keine zehn Meter davon entfernt den riesigen Wagen der Müllabfuhr. Weder bewegten sich seine Freundin oder der Wagen dort, wo sie waren, noch wo sie nicht waren. Somit bewegten sie sich überhaupt nicht. Warum aber tat er in diesem Moment etwas, das ihm über viele Jahre hinweg Alpträume bescherte und ein Schuldgefühl einimpfte?

Er rief, er schrie, so laut er konnte, seiner Freundin zu "Bleib steh'n!" Offensichtlich hatte er laut genug geschrieen, denn sie blieb tatsächlich wie angewurzelt stehen. Sie war stehengeblieben, weil er ihr das zugerufen hatte.

Ob sie von sich aus ebenfalls stehengeblieben wäre oder ob sie, wäre sie weitergegangen, noch rechtzeitig aus dem Gefahrenbereich herausgekommen wäre, ist eine rein akademische Frage. Tatsache ist, dass das riesige Gefährt seine Freundin erfasste und er mit ansehen musste, wie ihr zarter Kopf von überdimensionalen Rädern förmlich zermalmt wurde. Erst jetzt fragt er sich, ob er tatsächlich gesehen und gehört hat, wie ihr Kopf zerquetscht worden ist oder ob er seinen Blick im letzten Moment abwenden konnte und sich den Rest einbildete. Jedenfalls ist dieses Bild in ihm präsent, es verdrängt alle anderen in der unmittelbaren Folge. Wie er nach Hause gekommen ist, ob er an Ort und Stelle war, als die Polizei angefahren kam und gleich den Unfallverlauf schildern musste, das alles ist ihm entfallen.

Irgendwann hörte er seine Mutter etwas sagen, was ihn zutiefst schockierte. Die Familie seiner Schulfreundin habe sehr viele Kinder, da falle der Verlust des einen nicht so sehr ins Gewicht. Vielleicht würden sie sogar vom Fahrer oder seiner Versicherung hoch entschädigt.

Ebenso unvergessen ist der Versuch, ihn zu beeinflussen, vor Gericht zugunsten der betroffenen Familie auszusagen. Welche Seite auf ihn eingewirkt hat, ob seine eigenen Eltern oder die des Mädchens oder beide, hatte er vergessen. Jedenfalls wusste er, was er vor Gericht erzählen sollte. Wieder erwartete ihn eine Szene wie in einem Film, in der er sich an die Wahrheit hielt. Mit traumwandlerischer Sicherheit bestätigte er mehrmals, seine Schulfreundin mit seinem Ruf zum Stehen gebracht zu haben. Ein einziger Alptraum. Aber es war Realität, der ganze Unfall war passiert, musste er sich immer wieder bewusst machen. Das abrupte Innehalten, das Ende jeder Bewegung. Er fühlte sich von der kinematographischen Hypothese, es gebe keine Bewegung, weil Raum und Zeit unteilbar seien, betrogen.

Das Gegenteil dieser Voraussetzung ist die Annahme von den unendlich teilbaren Kontinua Raum und Zeit. Zenon stellt auch hierfür zwei Paradoxa zur Verfügung, die beweisen sollen, es gebe keine Bewegung; eines von beiden, das von Achilles und der Schildkröte, hat Berühmtheit erlangt:

Beim Start eines Wettlaufs hat die Schildkröte einen Vorsprung erhalten. Achilles kann die Schildkröte nie einholen, denn er muss zunächst den Punkt erreichen, von dem aus die Schildkröte gestartet ist. Diese aber hat sich inzwischen ein kleines Stück weiter bewegt usw., fortgesetzt bis ins Unendliche.