|
Für
amazon-Bestellung bitte
aufs Bild klicken |
Gebundene
Ausgabe
EURO 24,90
432 Seiten
ISBN: 3849599256
eBook
EURO 9,80
ISBN: 3849599409
Bestellung
beim Verlag
|
Leseprobe:
»Das Tal der Vermissten«
Auszug
»Hey
Leute, kommt her! Kommt alle mal her! Ein Neuer!« Ein Haufen
verwegen aussehender Gestalten kommt auf den Rufer zugerannt. Und
bevor sie ihn erreicht haben, versuchen sie, mit ihren Blicken seiner
waagrecht
erhobenen Hand folgend, den Angekündigten zu erspähen. Im
Nu haben sich um die hundert Personen eingefunden. Alle sind unterschiedlich
gekleidet, mit Ausnahme eines meterlangen,
meist hellen Halstuchs. Insgesamt ein Bild wie auf einem Kostümfest,
vom mittelalterlichen
Wams samt Pluderhose über die eng anliegende gefranste Leggins
und die Wildlederjacke
eines Waldläufers
bis hin zu T-Shirt und Jeans ist alles vertreten. Der Poncho aus Wolle,
den eine Frau trägt und die indische Kurta eines Mannes aus dem
gleichen Stoff deuten auf eher frostige Temperaturen hin. Prägend
hingegen ist die Djellabijah, das traditionelle Gewand der Wüstenvölker.
Die Menschen schreien ungezügelt durcheinander wie in die Pause
entlassene Kinder auf dem Schulhof:
»Wo denn …Ich seh nichts … Vielleicht könnt
ihr mal …« Die meisten von ihnen drängen sich eng
an den Mann, dessen Ruf sie gefolgt sind. Eingezwängt
sieht er sich genötigt, seinen Arm zu senken:
»Wartet mal, ich seh ja selbst nichts mehr … Drängelt
doch nicht … So geht doch ein wenig zur Seite … Wartet!«
»Seht nur, wie er stolpert!«, schreit jemand.
»Er rappelt sich wieder auf«, schreit ein anderer.
»Er will es nicht glauben«, schreit ein Dritter.
»Irgendwann wird er es schließlich begreifen …«,
sagt derjenige, der die ganze Meute angelockt hat.
»Er probiert er es auf allen Vieren …«, ruft eine
Frau.
»Ob das das Richtige ist?«, kommt der Zweifel aus der
Schar.
»Glaub ich nicht.« Ein anonymer Widerruf, der gleich Recht
erhält. Der Beobachtete ist wieder im Sand der leicht ansteigenden
Düne weggerutscht,
liegt auf dem Bauch, verdutzt, augenscheinlich
nicht wissend, was zu tun sei. Die Energie für einen neuerlichen
Anlauf scheint ihm zu fehlen.
»Na los!«, wird er aus der Menge heraus angefeuert. Vergebens,
der Neue kann die Rufe nicht hören, noch hat er die Schwelle
nicht erreicht. Wieder kommt er ihr einige Meter näher. Mühsam
hat er sich aufgerichtet, stolpert weiter.
»Gleich stürzt er wieder«, ruft es. Keine waghalsige
Prognose, die den Mann dennoch einem Baume gleich zu fällen scheint.
»Da liegt er wieder auf der Nase.« Die Bestätigung
kommt lapidar, keine Spur von Schadenfreude.
»Es ist doch wirklich nicht zu glauben, dass er es nicht begreifen
kann. Mit ein wenig Einfühlungsvermögen
muss er doch merken, welche Gangart
für ihn die beste ist.«
»Du hast leicht reden, Laura, warst du selbst denn sensibel
genug, es gleich zu merken und anzunehmen …?«
»Du hast Recht, Douglas, ich hab auch eine Zeitlang
gebraucht, es zu akzeptieren … Natürlich«, antwortet
sie in normaler Lautstärke, da sich die Gruppe etwas beruhigt
hat. Sie greift in ihre Haare streift sie nach hinten zusammen zu
einem Zopf, den sie mit der rechten Hand festhält, um dergestalt
den Wind daran zu hindern, die Haare weiter durcheinanderzuwirbeln.
Als nächstes schiebt sie ihr Halstuch über die Nase, um
ihre Atemwege
vor dem feinen Sand zu schützen. Douglas und die meisten anderen
tun es ihr gleich.
»Es geht los!«, ruft es aus der Gruppe. Überflüssigerweise,
denn jeder kann den Wind spüren und weiß, was er zu bedeuten
hat.
»Endlich hat er es begriffen«, ruft Douglas aus. »Seht
nur, er schlängelt sich dahin wie ein Wurm!« Der Neue hat
sich auf den Boden gelegt. Er winkelt die Beine an, drückt seine
Oberschenkel mit der Innenseite auf den Boden und stößt
seinen Oberkörper mit den Knien mühselig nach vorne. Dabei
belässt er die Hände am Körper, benutzt sie nicht,
was nahe läge, um damit zu robben.
»… Ja, es geht mühsam, aber doch voran …«
In der Zustimmung der Bemerkung liegt ihr Überhörtwerden
durch die Gruppe.
»Gleich, gleich bist du drin«, sagt Laura, als wolle sie
den Neuen antreiben. Der spuckt gerade etwas Sand aus und schiebt
sich mit zusammengebissenen
Zähnen weiter. Der Wind ist stärker geworden. Soweit Laura
das erkennen kann, gilt dies nur innerhalb der unsichtbaren Barriere.
Die Gruppe ist noch enger aneinandergerückt,
ein Bollwerk des Bewusstseins, des Wissens seiner zeitlichen Begrenztheit:
Im Moment des Höhepunkts des dann zum Sturm angewachsenen Windes
würde er abbrechen. Die Pforte würde sich wieder schließen.
Unsichtbar wirksam. Mit bloßem Auge nicht zu erkennen.
Das Tal, das größtenteils von Sand bedeckt ist und ein
Teil der ihn umschließenden Dünen, würde wieder abgetrennt
sein, abgeschlossen von der übrigen Welt. Hermetisch, selbstvergessen,
verschanzt in seiner Abgeschiedenheit.
Der stärker werdende Wind zerrt an den Haaren der Leute. Und
raubt jedem Einzelnen fast den Atem. Es scheint sie jedoch nicht sonderlich
zu stören, vielleicht, weil sie zu sehr abgelenkt sind in der
Beobachtung des Mannes jenseits der Barriere.
»Nur noch wenige Meter«, ruft jemand.
»Er schafft es!«, ruft Douglas.
»Er scheint an der Sperre angelangt zu sein«, sagt Laura.
»Hoffentlich begreift er, dass er kurz warten muss«, sagt
jemand. Die meisten Mitglieder der Schar zappeln aufgeregt auf der
Stelle, als müssten sie Wasser lassen, ein seltener Vorgang,
da in dieser Umgebung jeder Tropfen Flüssigkeit
vom Körper dankbar angenommen und verwertet wird.
»Bestimmt tut er das, hat er doch längst«, sagt Douglas.
»Was tut er denn jetzt?!«, kommt es überrascht aus
der Menge. »Er muss sich noch kurz gedulden«.
»Nein, warte noch einen Augenblick!«
Laura schreit, in dem Wunsch, der wie eine Schildkröte immer
wieder gegen die Sperre andrückende Mann könnte sie hören
oder gar verstehen, so laut sie dazu imstande ist. Eine Spur von verzweifelter
Anteilnahme in ihrer Stimme ist unverkennbar. Wieder und wieder prallt
er mit der Schulter, wobei er mit dem Kopf rechtzeitig vor dem Stoß
zur Seite zuckt, gegen das unsichtbare Hindernis. Irgendwann
hält er in seinen Anstrengungen
inne, liegt da. Alle Zuschauer glauben in seinen Gesichtszügen
das Bemühen herauszulesen,
unbedingt eine Lösung, einen gangbaren Weg zu finden. Er steht
auf, einige schnelle Schritte nach hinten, und dann unvermittelt das
Losstürmen
mit all der noch verbliebenen Energie. Gegen das unsichtbare
oder doch nahezu unsichtbare Schild. Ein schwaches Flimmern verrät
dem aufmerksamen
Beobachter seine Anwesenheit.
Im allerletzten Moment vor dem Aufprall schiebt der Mann eine Schulter
nach vorne, als wolle er eine Tür aufbrechen. Dem ersten folgen
weitere identische Anstrengungen, mit dem Unterschied,
dass die nach vorne geschobenen Schultern einander abwechseln. Mal
ist es, wie beim ersten Anrennen, die linke, als nächstes die
rechte, wieder die linke … Einige der Zuschauer zucken im Augenblick
des Aufpralls
zusammen und ziehen erschreckt ihren Kopf ein. Nach bald einem Dutzend
Versuchen hält der von der Mehrzahl der Menge solcherart Bemitleidete
inne. Er schüttelt den Kopf.
»Er gibt auf!«, schreit jemand.
»Nein, das darf er nicht«, schreit Laura.
»Er hätte dabei bleiben sollen, sich wie eine Schildkröte
fortzubewegen«, sagt jemand.
»Er hat sich abgewendet«, sagt Douglas. Seine Worte, die
nicht sehr laut gesprochen sind, gehen in dem allgemeinen Geraune
und Gemurmel, dem Enttäuschung
anhaftet, fast unter. Jemand sagt:
»Er sollte es noch mal probieren.«
|
Für
eBook-Bestellung
bei amazon
bitte aufs Bild klicken |
|
Parallel
zum Geschehen im Tal richtet ein alter Mann seine Anschuldigungen
und Klagen an den gehassten Widersacher, einer Personifizierung all
dessen, was ihm im Laufe des Lebens an Unglück und vermeintlichen
Ungerechtigkeiten widerfahren ist:
"...
und das war der eigentliche Verrat: Gegen meine Überzeugung
gehandelt zu haben, derzufolge nicht jegliche Initiative durch den
Zweck geheiligt werden kann. Das verdanke ich dir, du verficktes Arschloch!
Was ich wolle, ich Weichei und Moralist, sagst du. Du hättest
mir den schönsten Fick des Lebens beschert. Mag sein, antworte
ich, doch war der Preis nicht zu hoch?"
Am
Ende steht der von Selbstzweifeln zerfressene Mensch vor einer existenziellen
Entscheidung.
(c)
Janko Kozmus 2014
TAGS:
Identität - Erinnerung - Schuld - Sühne - Versöhnung
- Vermisste - Kinder - Zweite Chancce - Parabel - Purgatorium
|