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Rezension:
→ Khaïr-Eddine
- Sein letzter Kampf
Das
Verschwinden des Einzelnen in der Geschichte
Wundervoll
führt der Autor in die 1984 im Original und erst in diesem Jahr in deutscher
Übersetzung erschienene Geschichte ein: Der Rückkehrer - von gänzlich
anderer Art als die an anderer Stelle beschriebenen - kundschaftet den
Boden für den Leser aus. Er taucht in die südmarokkanische Landschaft
ein, aus der mit Symbolkraft ein stachlig-widerspenstiges Mal herausragt:
"Dornige Bäume, tausend Mal besiegt und tausend Mal wiedererstanden."
Die Rede ist von der Arganie, deren Bild immer wieder gemalt werden
wird. Er wendet sich den Bewohnern zu, deren Sprache und Traditionen;
er wägt Gegenwart und Vergangenheit gegeneinander ab, bevor er, gerührt
von der herzlichen Aufnahme, in letztere eintaucht, um sich selbst aufzulösen,
damit die Geschichte der legendären Gestalt des Lahcène Agoun'chich
beginnen kann.
Die Figur Lahcène Agoun'chich ist von Kampfgeist umgeben. Da ist der
Widerstand gegen die kolonial vorpreschenden Franzosen und dort die
Fehde gegen die Mörder seiner Schwester. Der Unerbittlichkeit, mit welcher
er diese verfolgt, opfert er die familiäre Gemeinsamkeit. Gleichwohl
entspricht der Protagonist nur ansatzweise der Vorstellung einer legendären
Kämpferfigur. Mohammed Khaïr-Eddine stattet sie mit Attributen
aus, die ein klischiertes Bild gar nicht erst entstehen lassen. Er gibt
dem Berberkämpfer einen überaus sanften Zug mit, der in der Liebe zur
Natur und ihren Kreaturen seinen Ausdruck findet. Sogar dem nächtlichen
Kleingetier fühlt er sich nahe und seine Liebe zu seinem Reittier, einem
altgedienten Esel, mutet schon rührend an.
Im scharfen Gegensatz zu diesem Charakterzug steht die zunächst zwanghaft
anmutende Verfolgung der Mörder seiner Schwester. Mit dem atavistischen
Brauch der Blutrache verbindet Khaïr-Eddine den Protagonisten mit
der Vergangenheit, den Traditionen seines Volkes, den Berbern der Berge.
In leuchtenden Farben lässt er die Schönheit der Sprache, der Anschauungen,
der kulturellen Eigenheiten dieses Volkes erstehen - und nicht nur im
einleitenden Teil des Romans Sein letzter Kampf, fast an jeder
Stelle schwebt zwischen den Zeilen diese Hochachtung für das Alte, das
zu Bewahrende mit. Bezeichnend für die Haltung des Autors, getragen
von großer Liebe, aber auch von um Objektivität ringender Sachlichkeit,
ist, dass er auch wenig achtenswerte Eigenheiten und Bräuche nicht verschweigt.
In diesem Kontext steht die Blutrache als negativ motivierte Verknüpfung
der Hauptfigur mit ihrer Geschichte. Eine Wertung, der sich die Handelnden
entziehen müssen. Vielleicht meint jener Alte, dem die Hauptpersonen
in einem Dorf begegnen, diesen Zug in jenem markanten Bild vom wahren
Berber als "ein auf dem Wetzstein der Zeit geschliffenes Messer".
Wir befinden uns in dem Zeitabschnitt, in dem die Franzosen ihre Vormachtstellung
zu festigen versuchen, ein Teil der Bergbewohner heftigen Widerstand
leistet, ein Teil seine Heimat verlässt und noch ein anderer seine Freiheit
im Austausch mit den durch die Europäer repräsentierten Verlockungen
hergibt. Agoun'chich selbst vermag fortschrittlichen Errungenschaften
nichts abzugewinnen, mit einer Ausnahme. Er besitzt ein englisches Gewehr,
für das er von einer der zentralen Figuren des Romans beneidet wird.
Die Bezeichnung der Schänder für diese Gestalt ohne eigentlichen
Namen spricht für sich: ein schlechter Mensch, der schlimmste eines
brüderlichen Gaunertrios. Ausgerechnet der Schänder bittet Agoun'chich,
ihn in den Norden zu begleiten, wo auch er sich ein modernes Gewehr
beschaffen möchte. Da Agoun'chich dem Schänder zu Dank verpflichtet
ist, begleitet er diesen. Ohnehin ist er ständig in Bewegung, es scheint
nicht wichtig, welchen Weg er nimmt. Seltsam reizvolles Nebeneinander
prägt ihn: das Ziel der Rache und die distanzierte Haltung gegenüber
den großen Veränderungen der Zeit, die ihn zu nahezu prophetischen Erkenntnissen
befähigt: Die geflüchteten Bewohner würden zurückkehren und "die Ärmsten
von ihren Äckern verjagen, um statt der widerstandfähigen Arganien,
Touristenanlagen und Luxusvillen zu bauen".
Ein seltsames Paar, das sich fortan gemeinsam auf die Reise begibt.
Hier der stolze und gleichzeitig genügsame, nie auf den eigenen Vorteil
bedachte Agoun'chich und da der Schänder, der von Morden und Überfällen,
dem Sammeln und Verwenden von Giften seinen Lebensunterhalt bestreitet.
Der gemeinsame Weg ist von den Bedürfnissen des täglichen Lebens bestimmt.
Sie jagen, sie suchen Unterschlupf, sie halten abwechselnd Wache, und
in ihrer Sehnsucht nach einer Frau tut sich ihnen gemeinsam eine Vision
auf, die zu den schönsten Stellen des Romans zählt, weil sie von der
Wahrhaftigkeit jener Träume durchdrungen ist, die noch lange nach dem
Erwachen sich nicht als solche zu erkennen geben. Es entstehen von Porphyrsäulen
gestützte unterirdische Räume, die die Protagonisten - und fast auch
den Leser - überirdischer Entrückung zuführen; Springbrunnen und sich
materialisierende Seelen von jungen Mädchen und Epheben vervollständigen
die Szenerie.
Die
Gemeinsamkeit des Duos endet, als es in die Befreiung, die Flucht und
den Kampf eines Stammesführers verstrickt wird. Ein ungleicher Kampf,
den die Kolonialmacht unter Einsatz des Prinzips Teile und Herrsche
eigentlich nur gewinnen kann. Vorher aber bereichern sich Stammesbrüder,
werden Kollaborateure aufgehängt, noch heute trage ein Baum den Namen
einer der Verräter, "die Arganie des Haida Moys". Und irgendwann verschwindet,
flüchtig motiviert die Momentdarstellung, die Gestalt des Schänders,
durch deren aufs Überleben reduzierten Charakter sich der ansonsten
sprachgewaltige Khaïr-Eddine zu einigen wenig überzeugenden Dialogen
hinreißen lässt. Seine Stärke liegt in der faszinierenden Paraphrasierung
dessen, was er an Überliefertem vorfindet, im Versuch - "Wie aber sich
entscheiden zwischen Theorie und Legende?" - zu trennen. Dies führt
hin zur brillanten Ausbreitung vielschichtiger Räume und Figuren und
deren Rücknahme, deren Auflösung im Voranschreiten der Geschichte, in
der eigenen Biografie.
(Originaltitel:
Légende et vie d'Agoun'chich)
11/2006
© by Janko Kozmus |