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Alia Mamduch - Rezension: Die Leidenschaft
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Rezension: → Alia Mamduch - Die Leidenschaft

Topographie der Empfindungen

Im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse, die in diesem Jahr die arabische Literatur zum thematischen Schwerpunkt erhob, meldete sich der Marokkaner Ben Jelloun mit einer Forderung zu Wort, die auf die politische Dimension dieser Entscheidung hindeutet. Man dürfe keinesfalls nur sog. Hofdichter, die von den jeweiligen arabischen Ländern als Vertreter ausgesucht würden, als Gäste einladen, sondern die Messe "sollte den zahlreichen Exilierten einen Platz einräumen". Zu diesem Autorenkreis zählt die seit vielen Jahren in Paris lebende irakische Autorin Alia Mamduch, die sich zurzeit auf einer Lesereise im deutschsprachigen Raum befindet.

Die 1944 geborene Autorin hat inzwischen fünf Romane verfasst. Außerhalb der arabischen Welt ist sie mit dem in zahlreiche Sprachen übersetzten Roman Mottenkugeln bekannt geworden. Der Roman beschreibt die Geschichte des Heranwachsens des Mädchens Huda in der irakischen Hauptstadt der 50er Jahre. Thematisch eng an diesen Roman angeschlossen ist der bereits 1995 erschienene Roman Al-Wala. Mit der deutschen Übersetzung Die Leidenschaft präsentiert der Lenos Verlag nach Mottenkugeln nun auch den Folgeroman. Im Übrigen hat der Schweizer Verlag mit einer beachtlichen Gesamtedition arabischer Literatur wesentlich zu ihrer Verbreitung im deutschsprachigen Raum beigetragen.

Das Mädchen Huda ist längst eine erwachsene Frau, wir befinden uns mit der Handlung des Romans Die Leidenschaft in den 90er Jahren. Huda hat wie die Autorin Bagdad längst verlassen, sodass dieses in den Hintergrund tritt. Die irakische Hauptstadt blitzt lediglich als Reflex der Gedanken auf und der inneren Monologe sowie in Gesprächen der Handelnden. Schauplatz des Geschehens ist die Gegend um das walisische Cardiff, wohin der junge Māsin seine Mutter Huda, den von ihr getrennt lebenden Vater Mussaab sowie dessen neue, vierte Ehefrau Widād einlädt.

Innerhalb der Struktur des Romans weist Alia Mamduch den vier Charakteren einen jeweils ähnlich großen Raum zu. Inhaltlich jedoch verschiebt sich das Gewicht der einzelnen Romanfiguren entsprechend ihrem tatsächlichen Stellenwert.

Widād, die eingesteht, sie habe "nichts zu tun, als immerfort zu beweisen, dass ich eine Frau bin, die für andere tabu ist, die einzig und allein diesem Mann zusteht", lässt sich trotz der selbst vorgenommenen Reduzierung nicht nur auf eine solche Rolle beschränken. Zu fein gesponnen ist die Figur in der Widersprüchlichkeit ihrer Gefühlswelt vor allem ihrer Vorgängerin gegenüber, die sie zunächst abtastend beobachtet, dann mal ablehnt, mal bewundert. Ebenso wenig gelingt es, ihren Gatten in das sich aufdrängende Klischee des potenten, autokratischen, selbstherrlichen Patriarchen zu pressen. Die subtil erzählte Leidenschaft zwischen ihm und Huda entwirft ein vielschichtiges Bild eines Mannes, der die alten Griechen liebt, weil sie ihre Götter verlachten. Von der Person des Gastgebers Māsin, dem eine Rahmenfunktion zufällt - er holt seine Gäste vom Flughafen ab und bringt sie dorthin zurück - wird noch am Ende zu sprechen sein.

Die Unterteilung des Romans in zahlreiche Kapitel mit so klingenden Namen wie Der irakische Vogel, Die Vororte des Zorns oder Die Geschöpfe des Kummers erlebt der Leser als willkommene Unterbrechung des sparsamen äußeren Handlungsverlaufs. Bevor immer ausführlichere Erzählstrecken aus jeweils einer Sicht der vier beteiligten Personen folgen, beginnen die Kapitel - wie beispielsweise das erste - mit einem Brief von Huda an ihre Kairoer Freundin Buthaina oder mit einer einleitenden Situationsbeschreibung durch die auktoriale Erzählerin, die schwer von der Protagonistin Huda zu trennen ist, da diese in vielfacher Hinsicht autobiographisch gezeichnete Figur die zentrale Position im Buch einnimmt. Nicht der immer noch attraktive Schwerenöter und erfolgreiche Geschäftsmann Mussaab ist der Fixstern, um den als Planeten die Gattinnen und der Sohn Māsin kreisen, sondern dessen zweite und immer noch nicht geschiedene Frau Huda bildet die referentielle Mitte der geschlossenen Gesellschaft.

Huda ist dem Sohn, mit dem zusammen sie Mussaab - und Bagdad - nach dessen zahlreichen Affären verließ, näher als der Vater und an ihr reibt sich nolens volens die junge Gattin, die in dem Verhalten der erfahrenen Frau Hinweise sucht, wie die schmerzliche Distanz zu ihrem Gatten zu überwinden sei und zuletzt gar Rat bei dieser einholt. Schließlich ist es Huda, die der alternde Mussaab nie zu lieben aufgehört hat. Auch sie hat - ungeachtet der Tatsache, dass sie den Ehemann verlassen hatte - die tief empfundene Leidenschaft für Mussaab nie abgelegt, eine Leidenschaft, die in der Gegenwart seltener auflodert als in der Vergangenheit, schon wegen der räumlichen Trennung.

Wenige Monate nach der Heirat hat Huda den ersten von drei Suizidversuchen unternommen, eines der wenigen Fakten, das dem Leser die Widersprüchlichkeit ihrer Leidenschaft näher bringt, indem es die Gefühlsebene transzendiert. Vor allem zu Beginn der Erzählung bedarf es großer Aufmerksamkeit, den komplexen Empfindungsschichten zu folgen. Die Autorin schneidet Einzelteile mit sezierender Schärfe heraus und hält sie dem Leser so nah vor das innere Auge, dass der Blick darauf unscharf zu werden droht. Dies macht die Schwierigkeit bei der Lektüre dieses Romans aus. Dass es bei der Gefahr bleibt, hat Methode: Die Teile zerfallen in winzige, von Pragmatismus durchdrungene Gedankenpartikel, die sich nicht darum scheren, einander fortwährend zu widersprechen, gleich dem pubertären Spiel des "Ich liebe ihn, ich hasse ihn". Gleichzeitig kann sich der Leser des Eindrucks nicht erwehren, auf einem gemächlich dahinziehenden melancholischem Erzählfluss zu treiben, der nur selten vom Plätschern direkter Reden und nie vom übersprühenden Schaum echter Dialoge unterbrochen wird und der ganz allmählich doch an Wellengang gewinnt. Das ist die eigentliche Kunst der Autorin.

Am höchsten schlagen die Wellen aus, wenn Huda von ihrer in Bagdad lebenden Freundin Sabīha erzählt, die sie einmal mit dem Eingeständnis überraschte, in der Affäre mit Mussaab immer nur Hudas Nähe gesucht zu haben. Die Figur der Sabīha steht für eine extreme Möglichkeit der Befreiung der Frauen im Roman. Keinerlei Tabus akzeptierend folgt sie ihren körperlichen Bedürfnissen. Einmal eingeführt weist ihre Gegenwart zwischen den Zeilen fortwährend auf die Beschränkungen selbst der starken Persönlichkeit von Huda hin, die im Abschütteln der Zwänge ihres Ichs vieles opfern musste. Schließlich treibt Sabīhas Körper leblos im Tigris. Keine Erklärung, kein Hinweis auf Ursachen, jedoch Stoff für ein neues Buch und ein Bild, das sich nur schwer trennen lässt vom beginnenden Untergang Bagdads im zweiten Golfkrieg, wenngleich Sabīhas Tod lange vor diesem stattfand.

Die Gäste sind abgereist. Māsin bleibt zurück im verregneten Britannien, das ihm seine ersten Wunden zugefügt hat. In seiner Person drückt sich am deutlichsten die Einsamkeit und die Verletzlichkeit des Exilierten aus. Ihm war ohne Angabe von Gründen bei Kriegsausbruch vom Direktor der Elektronikfirma, bei der er beschäftigt war, gekündigt worden. Kaum zu ertragen war der Hass seines Gegenübers, "als wären wir es, die Großbritannien angegriffen und die Städte mit Raketen und Granaten beschossen hätten". Māsins Gedanken kehren nach Bagdad zurück, zu seiner Jugend, seinen Freunden, den "Söhnen der irakischen Mittelklasse", mit denen gemeinsam er sich "ins Feuer gestürzt" hatte.

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Der Roman "Die Leidenschaft", der das komplizierte Beziehungsgeflecht einer kleinen Gruppe von Menschen überzeugend zu gestalten weiß, ist auch ein Buch über die Liebe zur Heimat und des Versuchs einer endgültigen Loslösung von ihr. Doch kehrt die irakische Autorin Alia Mamduch mit ihrem nächsten Roman Al-Ghulāma (das Sklavenmädchen) noch einmal nach Bagdad zurück. Es wäre zu wünschen, dass der Lenos-Verlag seine hervorragende editorische Arbeit mit der Herausgabe auch dieses Romans fortsetzt, da der zeitliche Hintergrund der Handlung, die 60er und 70er sowie ein Rückblick auf die 30er Jahre, ein Verständnis für die Probleme dieses Landes vertiefen könnte. Gleichzeitig würde der Leser erneut der lebensbejahenden Sabīha begegnen, die neben Huda eine Hauptfigur und Haupterzählerin dieses Buches verkörpert.

(Originaltitel: Al-Wala)

10/2004 © by Janko Kozmus
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