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Rezension: Ahmed Khaled Towfik - UtopiaEine dünne Kruste Um eine hinlänglich bekannte Utopie oder vielmehr Dystopie – so scheint es zunächst – handelt es sich bei dem Roman Utopia des hierzulande unbekannten Autors Ahmed Khaled Towfik.
In seiner Heimat Ägypten sowie den angrenzenden arabischen Ländern ist Towfik einer breiten Leserschaft vertraut, insbesondere als Verfasser von Science fiction-, Fantasy- und Horror-Romanen, die teils in Serien erscheinen. In Utopia wird eine Gesellschaft beschrieben, die sich in zwei fast vollständig unabhängige Teile gespalten hat, repräsentiert durch zwei Ich-Erzähler, die sich – mit einer Ausnahme – als typische Vertreter ihrer jeweiligen Umgebung erweisen. Im Gegensatz zu ihren Mitbewohnern sind sie passionierte Leser, eine Gemeinsamkeit, die dazu verführen könnte, sie als ein gegenseitiges Spiegelbild wahrzunehmen. Kenner der ägyptischen Geschichte, die sie dem Leser aus jeweiliger Sicht nahebringen, sind die Beiden allemal. Zwischen dem Schlaraffenland Utopia und den umgebenden Elendsquartieren, zu denen Ägypten im Jahre 2023 mutiert ist, gibt es nur noch wenige Bezüge, wirtschaftliche gehören dazu. Pillen und andere Arzneimittel, vermutlich auch die synthetisierte Modedroge Phlogistin, werden von einem Pharmakonzern aus Utopia bezogen, dem ein gewisser Murâd vorsitzt. Er ist einer der Mächtigen Utopias und Vater der einen, schier an Langeweile eingehenden Hauptfigur. Mit Irokesenschnitt ausgestattet, verwendet der junge Mann viel Zeit und Mühe auf allerlei modischen Schnickschnack, weil er so die Mädchen besser herumkriegen kann; eine überflüssige Mühe, so scheint es, da diese – gleichfalls an Überdruss, Utopias Krankheit der Jugend leidend – so ziemlich alle Zurückhaltung aufgegeben haben. In Germinal hat der junge Ich-Erzähler eine feste Freundin – was ihn nicht davon abhält, permanent mit anderen Frauen intim zu werden, wie beispielsweise des Morgens, wenn er seine schwarze Dienerin zum Verkehr zwingt. Eines Tages überredet er Germinal, mit ihm auf die Jagd zu gehen, auf Menschenjagd, um genau zu sein. Und als Beweis tatsächlich stattgefundener Mutprobe sei ein Körperteil des oder der Getöteten nach Utopia mitzubringen. Jenseits der, mit mehrfachem Sicherheitskordon umgebenen Region der Reichen versucht der zweite Ich-Erzähler für sich und seine geliebte, an Schwindsucht leidende Schwester Safîja das Überleben zu gewährleisten, um nahezu jeden Preis. Gâbir, so heißt dieser, geht Allianzen mit Banden ein, handelt gelegentlich mit Drogen, tauscht, was immer er gestohlen oder erschwindelt hat gegen notwendige Dinge, die andere gestohlen oder erschwindelt haben. Er ist in den Dreißigern und gehört zu den Wenigen, die noch eine universitäre Ausbildung absolvieren konnten, allerdings ohne jegliche Aussicht auf eine Anstellung und sei sie noch geringfügig. Gâbir ist von kräftiger Statur, aber weder der Stärkste noch der Mutigste. Im Handlungsverlauf offenbart er jedoch mehr und mehr ein beachtliches Maß an taktischer Gewieftheit! Inwieweit seine Motivationen über die reine Befriedigung der Grundbedürfnisse hinausgehen und in einer wohldurchdachten Strategie münden, bleibt undurchsichtig. Allerdings ergeht er sich in politischen Reflexionen, was er wiederum mit seinem Ich-Erzähler-Pendant gemein hat. Dessen Auslassungen sind weniger von kritischer Sicht als von Defätismus und Zynismus durchtränkt und gleichen in der Tendenz den gelegentlich zitierten Zeilen des ein oder anderen Orgasm-Songs.
Zeilen wie diese gehören zu den vielen formalen Besonderheiten des Romans in fünf Teilen, in denen sich die beiden Ich-Erzähler abwechseln. Die einfache Sprache entspricht in ihrer Direktheit in weiten Teilen der prekären Ausdrucksweise sozialer Unterschichten und schlägt mühelos den Bogen zum arroganten Sprachstil einer rücksichtslosen Oberschicht; an Intensität gewinnt sie durch den Einsatz von Wiederholungen oder abgehackten verblosen Kurzsätzen. Die beiden Erzähler führen den Leser in ihre jeweilige Welt ein, und schon bald treffen sie aufeinander: Die beiden Jugendlichen verlassen Utopia und dringen verkleidet in die Außenwelt ein, um sich den Kick zu verschaffen, der ihnen zeigen soll, dass sie noch am Leben sind. Entlarvt werden sie in höchster Not von Gâbir gerettet. Er nimmt sie bei sich auf; ein Heim kann man die Behausung, die er mit seiner Schwester Safîja bewohnt, kaum nennen. An dieser Stelle fragt sich der Leser, ob Gâbir nicht dieselbe Wut verspürt wie seine Kumpane, die die beiden Eindringlinge am liebsten zerfleischt hätten. Die Ausweglosigkeit der Lebenssituation wäre Grund genug gewesen, sogar selbst mit Hand anzulegen. Welche Absicht verfolgt er stattdessen? Warum ist er so bestrebt, die Beiden aus der Schusslinie herauszuhalten? Und dies obwohl bei den verschiedenen Herumstreichenden – Freund und Feind – die Ahnung, bei seinen beiden Gästen handele es sich um Bewohner von Utopia, zur Gewissheit heranreift. Sodass er sich schließlich zum Handeln gezwungen sieht. Spätestens hier wartet der Autor mit Überraschungen auf, die dem Leser zweierlei vor Augen führen: Bei den Protagonisten handelt es sich keineswegs um verwandte Charaktere, die sich nur durch die Zugehörigkeit zu gegensätzlichen Lagern voneinander unterscheiden, im Grunde aber jegliche Situation zum eigenen Vorteil ausnutzen würden. Und darüber hinaus wird die eingangs gehegte Befürchtung, ausgetretene literarische Pfade zu betreten, nachhaltig zerstreut.
09/2015 © by Janko Kozmus |
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