Rezension:
Marlen Haushofer - Die Wand
Die
einzige Frau
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Textausgabe
mit Materialien
11.-13. Klasse |
Die
Angst vor der absoluten Einsamkeit ist eine Urangst des Menschen.
In einer mehr oder weniger feindseligen Umgebung alleine überleben
zu müssen, diese Vorstellung hat ihn seit jeher bewegt
und geängstigt. Als eines der beeindruckendsten Beispiele
ihrer literarischen Umsetzung darf Guido
Morsellis Roman Dissipatio
humani generis aus
den 70er Jahren gelten, sozusagen ein männliches Gegenstück
zu dem bereits 1968 von der 1970 früh verstorbenen Österreicherin
Marlen Haushofer geschriebenen Roman Die Wand, ihrer
»Katzengeschichte«; sie soll mit den Worten »Hier
eine Katzengeschichte« das Manuskript ihrem Mentor mit
der Bitte um eine Beurteilung überreicht haben. Ein Buch,
das man auch heute noch kaum aus der Hand legen kann, hat man
es erst einmal aufgenommen. Dabei geht es tatsächlich sehr
viel um Katzen und »anderes Viehzeug«. Im Mittelpunkt
aber steht ein Mensch, eine Frau, die sich eines Morgens plötzlich
allein auf der Welt sieht, wie der Protagonist in Dissipatio
humani generis, der sich, nach versuchtem Suizid, ebenfalls
als einzig Existierenden erkennen muss.
Als vermutlich wichtigster Unterschied beider Erzählungen
drängt sich die Einschränkung der Bewegungsfreiheit
in Marlen Haushofers Roman geradezu auf. Während der männliche
Ich-Erzähler sich als letzter Mensch zumindest frei bewegen
kann, ist die weibliche Überlebende in einer festgeschriebenen
Region gefangen, einem zwar großen, jedoch - durch eine
transparente und scheinbar undurchdringbare Wand - begrenztem
Waldgrundstück. Selbst in dieser Endzeitfiktion kann sich
die Frau der zusätzlichen Unfreiheit nicht entledigen:
Ungeachtet der vielen Beschränkungen, denen der Mensch
unterworfen ist, die Frau leidet immer noch unter einer weiteren
Begrenzung ihrer Freiheit, der Beschränkung durch den Mann.
Dies mag der entscheidende Grund gewesen sein, dass der Roman
bei Erscheinen sehr große Beachtung in der feministischen
Literaturkritik fand.
Der
Inhalt des Romans ist leicht erzählt: Die Protagonistin
ist in ein mitten im Wald gelegenes Jagdhaus eingeladen. Am
Abend fährt das Gastgeberehepaar noch in die nahgelegene
Ortschaft, um Besorgungen zu erledigen. Es ist noch nicht zurück,
als die Erzählerin zu Bett geht. Die Abwesenheit der beiden
am nächsten Morgen verwundert sie. Nach und nach verstärken
sich ihre Sorgen, sie bricht auf, um Näheres herauszufinden.
Im Beisein eines Hundes, der ihr im Verlauf der Handlung viel
Trost gibt, stößt sie auf eine Barriere, eine unsichtbare
Wand. Bald wird klar, dass die Wand die ganze Waldregion einschließt,
wobei sich die Gefangene dieser Situation nie die Mühe
macht, jede Möglichkeit nach Durchlässigkeit zu erkunden.
Hinter der transparenten Wand aber erkennt sie in weiter Entfernung
- einige wenige - Menschen, die mitten in der Bewegung erstarrt
sein müssen, mitten im Leben scheint ihnen dieses genommen
worden zu sein, von was oder wem auch immer. Einen Feind - sie
nennt ihn, Arroganz unterlegend, einen Sieger - wird es, muss
es geben. Früher oder später wird er auch zu ihr kommen,
sein Siegerrecht beanspruchen.
Vor
der Notwenigkeit, mit der vorgefundenen Situation umgehen zu
müssen, verblasst dieser Gedanke schnell. In erstaunlicher
Gelassenheit überlässt sie sich dem Alleinsein, beginnt
mit einer Bestandsaufnahme, die neben einigen Lebensmitteln
eine Katze einschließt und einen Hund, eine Kuh. Die Sorge
um die Tiere und praktische Notwendigkeiten zeigen sogleich
ihre Schwierigkeiten in deren Bewältigung auf. Sie beginnt
diese Unfähigkeit, die der Entfremdung des Stadtmenschen
von der Natur entspringt, zu akzeptieren und tritt den beständigen
Kampf zu ihrer Überwindung mit einer bewundernswerten Geduld
an.
Die
Frau lernt allmählich die ihr gegebenen Räume zu erweitern,
Grenzen einzureißen, jedoch seltsam wenig Energie verwendet
sie darauf, die Wand selbst zu überwinden. Lange Zeit herrscht
der Eindruck vor, als glaubte sie, die Barriere, wenn sie es
nur wollte, bezwingen zu können, indem sie sich unter ihr
hindurchgräbt. Doch vielleicht übt das, was sie jenseits
ihrer Welt erwartet, keinen Reiz auf sie aus; die Sicht auf
die eingefrorenen Gestalten lässt sie und den Leser das
wahre Grauen dahinter vermuten. Sie entscheidet sich, ihr Refugium
bewohnbar zu machen. Sie gießt ihr Leben in geregelte
Abläufe. Sie wirkt nicht unzufrieden, was beinhaltet, dass
ihr Überleben materiell gesichert zu sein scheint, wenn
es auch kontinuierliche Anstrengung erfordert. Irgendwann verlässt
sie das weiter unten am Berg gelegene Grundstück und zieht
auf die Alm, in den offenen Sommer. Sie erweitert ihre Räume,
ihre Sicht. »Einmal, als ich auf dem Aussichtsplatz saß,
glaubte ich in weiter Ferne Rauch aus den Fichten aufsteigen
zu sehen.« Doch anders als ihr männliches Pendant,
das viel Zeit darauf verwendet, einen Mitüberlebenden ausfindig
zu machen, setzt sie wenig Hoffnung in einen solchen Gedanken,
er verflüchtigt sich rasch.
Von
Beginn an wird der Leser von der Autorin sehr nah an den Text
herangeführt und eng verbunden mit der spannenden, detailreich
beschriebenen Alltagsbewältigung, so dass es ihm eine persönliche
Genugtuung ist, zu spüren, dass keinerlei Einflüsse
von außen, von Witterungsbedingungen einmal abgesehen,
die Anstrengungen der Überlebenden unterlaufen, die dann
auch zum Überleben erfolgreich beitragen.
Der
Ich-Erzähler in Dissipatio humani generis nützt
die Möglichkeit zur Erkundung seiner weiteren Umgebung;
sie umfasst das Inbild von Zivilisation, die Stadt. Er empfindet
es als wohltuend im Durchbrechen des Pflanzenwuchses durch den
Beton, die Natur in ihrem Recht zu sehen; sie holt sich zurück,
was ihr genommen war. Weitgehend jedoch verbleibt er in der
abstrakten Reflexion, die in der Überlegung gipfelt: »Die
Menschheit, das bin ich«. Ganz anders Haushofers Protagonistin.
Sie lebt gezwungenermaßen auch von der Kreatur, in erster
Linie aber mit ihr; das Melken der Kuh soll diese von
ihren Schmerzen befreien. Rührend kümmert sie sich
auch um die anderen Tiere. Sie lebt ganz im Gegenständlichen,
und ihr Denken haftet weitestgehend am Konkreten, wenn sie an
ihre Freunde, ihre Verwandten denkt. Jedoch immer beinhaltet
größte Nähe auch Distanz: »Ich kann mir
erlauben, die Wahrheit zu schreiben; alle, denen zuliebe ich
gelogen habe, sind tot.«
Nach
zwei Jahren denkt die Protagonistin kaum noch daran, gefunden
werden zu können, sie spürt, »daß die
Hoffnung in mir abgestorben ist. Es macht mir angst.«
Dies begründet ihren »heftigen Widerwillen gegen
Tagträume« und führt zu existentiell fester
Bindung an ihren neuen, längst Routine gewordenen Alltag
im Wechsel der Jahreszeiten; die neue Saison auf der hoch gelegenen
Alm beginnt wie immer friedlich.
04/2004
© by Janko Kozmus
ZUMSEITENANFANG
2011 wurde das Buch vom österreichischen Regisseur Julian
Pölsler verfilmt; Martina Gedeck spielt die Hauptrolle.
Premiere war bei der Berlinale 2012. In den Kinos läuft
der Film seit dem 11. Okt. 2012. In einem atmosphärisch
dichten Film verkörpert Martina Gedeck überzeugend
"die einzige Frau".
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