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Johnson, Fiskadoro
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Rezension: → Denis Johnson - Fiskadoro

Die Kubaner werden kommen

Negativ- oder Anti-Utopien, die ein postatomares Szenario entwerfen, erscheinen seit vielen Jahrzehnten in regelmäßiger Folge. Zu den ersten in dieser Reihe gehört der vor etwa einem halben Jahrhundert veröffentlichte, wenig bekannte, aber erstklassige Roman Affe und Wesen von Aldous Huxley. Nach wie vor scheinen die Autoren von dieser Vorstellung fasziniert zu sein und ihr auch immer wieder neue Perspektiven abzugewinnen. Überraschend frisch liest sich dies beim us-amerikanischen Autor Denis Johnson in seinem Roman Fiskadoro.

Fiskadoro erschien im Original bereits im Jahre 1985, 1990 folgte die deutsche Edition und Mitte des vergangenen Jahres legte der Rowohlt-Verlag in einer gebundenen Ausgabe eine überarbeitete Übersetzung vor. Dies ist mit Sicherheit der steigenden Popularität des Autors zu verdanken, von dem inzwischen zahlreiche Bücher in Übersetzung vorliegen, allen voran die Storysammlung Jesus' Sohn und der Roman Schon tot, eine Art modernes, in Kalifornien angesiedeltes Schauermärchen.

Der 1949 in München geborene Autor hat bereits sehr früh mit dem Schreiben begonnen. Die ersten beiden Veröffentlichungen waren Gedichtbände, es folgte Prosa, gegenwärtig wendet sich Johnson in enger Zusammenarbeit mit der in San Francisco ansässigen Theatergruppe Campo Santo verstärkt der Dramatik zu.

Dass des Autors Nähe zur Lyrik nach wie vor groß ist, lässt sich auch an diesem Prosawerk deutlich ablesen. Kraftvoll deftige, aber auch grausig schöne Bilder - wie das des endlos langen, jedoch unbeweglichen Konvois, dessen einzelne Fahrzeuge von Skeletten, den Zeugen des atomaren Blitzes, gesteuert werden - stehen neben lyrisch zarten Visionen und belegen Johnsons Stärke, die Gestaltung einer Atmosphäre, die mehr ist als dumpf pulsierender Hintergrund, die selbst schon eine eigene Geschichte darstellt. Neben dieser nimmt die Erzählung eines Untergangs, präziser: die Erzählung des Versuchs, dem Untergang nach dem Untergang zu entrinnen überaus plausible Züge an.

Der anfängliche Blick, der die Geschehnisse des Hauptteils der Handlung aus einer entfernteren Zukunft bewertet, suggeriert eine nach dem Untergang stattgefundene Aufwärtsbewegung: "wenig Grund zur Sorge" hätten "die Menschen, die diese Farben bewohnen". Dagegen nehme es weiter im Norden immer noch kein Ende mit den Toten. Die Farben, von denen die Rede ist, sind das smaragdblaue Meer sowie die hellgelben und die weißen, "zersplittertem Elfenbein" gleichenden Strände entlang den Florida Keys und südlich davon. Gegenüber liegt Kuba, von dem noch die Rede sein wird.

Nicht nur der Ort der Handlung, auch die Zeit ist erstaunlich klar fixiert. Sie findet ihren Ankerpunkt in einer Nebenfigur, deren Geschichte allerdings als Bild im Bild wesentliche symbolische Bedeutung beizumessen ist. Die über hundert Jahre alte Großmutter eines der Protagonisten, Herrn Cheungs, war 1973 in die lebensbedrohlichen Wirren des us-amerikanischen Abzugs aus Saigon geraten. Mit einem der letzten Hubschrauber versuchte sie die Stadt zu verlassen. Teile ihrer Geschichte werden immer wieder eingestreut in die aktuelle Handlung, die darin liegende Dramatik des Kampfs des Individuums, dem Hinabgerissenwerden in den Abgrund zu entrinnen, ist an Spannung kaum zu überbieten.

Herr Cheung selbst ist Musiker, in seiner Eigenschaft als Musiklehrer lernt er Fiskadoro kennen, dessen größter Wunsch es zu sein scheint, dem einzig existierenden Sinfonieorchester beitreten zu können. Dazu muss er erst einmal spielen lernen. Besonders begabt scheint er nicht zu sein, jedoch löst das mitgebrachte Instrument, eine Klarinette, Begeisterung aus und genügt, das Interesse seines Lehrers zu wecken. Die beiden Charaktere könnten nicht gegensätzlicher sein, und doch entsteht etwas zwischen ihnen, das beinahe die Qualität einer Freundschaft erreicht. Beide stehen repräsentativ für jeweils eine der die Katastrophe überlebenden Gruppen, die allesamt in einer Sperrzeit verharren. "Eines Tages würden die Jahre der Quarantäne zu Ende sein, und die Kubaner würden kommen."

Fiskadoro, der Fischerjunge, spricht die Sprache seines Kreises, deren karges Gerüst nicht unwesentlich gestützt wird vom zweisprachigen Programm der Kubaner, das zur allseits beachteten "Radio-Zeit" von der Insel herüberdringt. Während sich im Fischervolk nahezu alles Streben dem physischen Überleben unterordnet, gehört Herr Cheung mit Gleichgesinnten einem Lese- und Diskussionskreis an. In Twicetown. In der Stadt, in welcher der Standort von "Eins" zum Treffpunkt besonderer Gelegenheiten geworden ist. Ein Ort, in dessen Nähe die Lektüre eines Buchs zum mystischen Ereignis gerät; "Eins" ist eine vollkommen erhaltene, vorgeblich vom Weg abgekommene amerikanische Atombombe.

Häufig, wie am Beispiel des Buches, das den Leser bereits zum Inhalt hat, vermengen sich in diesem Roman Traum, Phantasie und Realität, ohne eine rationale Auflösung zu erfahren. Einerseits lässt dieses Verfahren den Leser ratlos zurück, andererseits erzeugt es eine seltsame Reizung, der Spannung nicht unähnlich und Neugierde hervorrufend. Doch während hier eine wechselseitige Durchdringung überzeugt, erscheinen die Einzelteile in der Vermengung von verschiedenen Religionen und Kulten eher als Versatzstücke, die nur dem einen Zweck dienen, nämlich "trendy" zu sein.

Fortschritte im Spiel des jungen Fiskadoro sind kaum zu verzeichnen. Vielleicht ist dies der Ablenkung durch die Begehrlichkeiten eines Heranwachsenden zuzuschreiben. Körperliches Verlangen lässt ihn denn auch eines Abends den einladenden Formen eines jungen Mädchens folgen. Er weiß, sie gehört den Sumpfleuten an, Vorsicht ist geboten, doch "seine Lenden schmerz(t)en" vor Begierde.

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Seltsame Geschichten werden von den Sumpfleuten erzählt. Herr Cheung lauscht ungläubig den Händlern, die durch beruflichen Kontakt Einblick in die Riten, in die Lebensweise dieser Menschen erlangen. Die Berichte erzeugen Neugierde, wenn nicht Angst, so wie Cheungs Furcht, ausgelöst durch den Blick übers Meer in Richtung Süden auf das "schemenhafte Gebilde". Großmutters Blick ist nach innen gerichtet, sie durchlebt das finale Kapitel ihrer Flucht ein letztes Mal. Wenig bleibt zu sagen übrig, außer vielleicht eine letzte Frage: Wann werden sie kommen?

 

(Originaltitel: Fiskadoro)

02/2004 © by Janko Kozmus

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