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Rezension: → Yasmina Khadra - Nacht über Algier

Die Unantastbaren

Sechs Jahre nach Beendigung der Kommissar-Llob-Trilogie lässt Yasmina Khadra seinen eigensinnigen Ermittler wieder auferstehen. Wie der interessierte Leser sich noch erinnern wird, ließ der inzwischen international anerkannte algerische Autor seinen Helden, Polizist und Krimiautor in einer Person, im dritten Band der Trilogie, Herbst der Chimären, einem Anschlag zum Opfer fallen.

Nun handelt es sich bei der Wiederauferstehung weniger um ein metaphysisches Ereignis als um einen einfachen literarischen Kniff. Khadra versetzt die Handlung des im Original 2004 erschienen Romans Nacht über Algier in einen Zeitraum, als Kommissar Brahim Llob noch unter den Lebenden weilte und mehr oder weniger munter seiner Ermittler-Tätigkeit nachging. Jetzt kann der Leser auch erahnen, welch große Veränderungen in dem Kommissar vorgegangen sein müssen, bis er ihm in der vormals präsentierten Kratzbürstigkeit vorgesetzt werden konnte. In Nacht über Algier hat er auch schon seinen überaus schroffen und aggressiven Ton gegenüber Vorgesetzten und anderen Opportunisten im Lande am Leibe. Doch der Kommissar kann auch anders. Seiner Gattin gegemüber, die im Gegensatz zur Roman-Trilogie hier gelegentliche Auftritte erhält, verhält er sich überaus liebevoll. Und um seinen Untergebenen Lino kümmert er sich wie ein Vater. Leider verbittet sich, wie dies nicht selten auch in realen Verwandtschaftsverhältnissen der Fall ist, sein Schützling jegliche Einmischung in sein Privatleben. Das muss sich Kommissar Llob gefallen lassen. Zum Leidwesen des Assistenten, muss hinzugefügt werden. Denn der verliebte Tropf schliddert immer tiefer in vorbereitete Fallgruben, bis er schließlich im Kerker der Geheimpolizei landet. Nur unter Aufwendung aller Beziehungen zu den alten Kampfgenossen, ja auch Commissaire Llob kämpfte im algerischen Widerstand, gelingt es seinem Vorgesetzten, ihn wenigstens einmal zu besuchen. Doch Lino, der schöne Lino, der Galan, der Herzensbrecher, ist nicht wieder zu erkennen und kaum ansprechbar. Spuren körperlicher Misshandlung sind unübersehbar. Wie hat es soweit kommen können? Lino hatte sich in die Geliebte eines der Bosse der Stadt verliebt. Anfangs schien alles eitel Sonnenschein. Doch allmählich dämmert es dem Leser, dass da nicht alles mit rechten Dingen zuging. Meinte es das Objekt der Begierde je ernst mit der Hinwendung zu dem kleinen Polizeiassistenten?

Die Entstehung des Romans fällt in die Zeit, da Mohammed Moulessehoul, alias Yasmina Khadra, nach fast 36 Jahren Zugehörigkeit in der algerischen Armee seinen Dienst quittiert und seine Heimat samt Familie verlässt, um nach Frankreich ins Exil zu gehen, wo das Buch bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Die deutsche Übersetzung erschien im Jahre 2006 und erst im vergangenen Jahr wurde die Taschenbuchausgabe vorgelegt.

Dreh- und Angelpunkt der Handlung ist der Versuch, den eingekerkerten Lino wieder freizubekommen. Auf den großen Haj Thobane, dem Lino zwischenzeitlich das Mädchen ausgespannt hatte, hat er das wirklich?, ist ein Anschlag verübt worden. Und zwar mit Linos Waffe. Getötet wurde jedoch nicht dieser, sondern dessen Chauffeur. Dafür soll Lino büßen, weil er nicht beweisen kann, seine Waffe verloren zu haben. Selbst Kommissar Llob ist sich der Unschuld seines Assistenten nicht ganz gewiss. In seiner grenzenlosen Verliebtheit war dem Assistenten nahezu jede Dummheit zuzutrauen. Bei einem zweiten Anschlag gegen Haj Thobane wird ein namenloser, dem Kommissar jedoch nicht unbekannter Angreifer mit Linos Waffe in der Hand erschossen.

Eine überaus wichtige Person, dieser Namenlose, für Kommissar Llob ebenso wie für die Struktur des Romans. Die Figur diente der Handlung als Initialzündung und half dem Kommissar über eine berufliche Durststrecke hinweg.

Der öde Stillstand, die Leblosigkeit, die Gelangweiltheit nicht nur bei den Kommissariatsangestellten, sondern in den Gesichtern der meisten Menschen hat scheinbar die Hauptstadt und das gesamte Land erfasst; eine der Schlüsselstellen des Romans. Sinnlich nachvollziehbar präsentiert sich dem Leser die Lethargie, ausgelöst durch die absolute Resignation innerhalb der Bevölkerung. Jegliche Entwicklung im Lande scheint durch die Korruption der politischen Klasse zum Stillstand gekommen zu sein. An den Schlüsselstellen der Macht hat sich eine Haltung etabliert, die das Land zum Selbstbedienungsladen degradiert. In dieser Situation, als Brahim Llob in einer Mischung von Langeweile und Beklemmung zu ersticken drohte, rief ihn der befreundete Leiter einer psychiatrischen Anstalt an und bat um Hilfe.

Der Namenlose zählte zu den vielen, die in den Genuss der von Staats wegen erlassenen Amnestie kommen sollten. Ein Unding, wie der besorgte Anstaltsleiter Llob versicherte. Der Serienmörder sei eine Zeitbombe, die jederzeit wieder hoch gehen könne. Unverantwortlich, ihn in die Freiheit zu entlassen. Gegen alle Vorschriften lässt Kommissar Llob den Namenlosen beschatten, jedoch ohne den gewünschten Erfolg, wie sich schließlich erweist.

Nach dem Tod des Namenlosen, da die beiden Handlungsstränge sich vereinen und Lino noch nicht frei gekommen ist, betritt die Historikerin und Journalistin Soria Karadach die Szenerie. Sie präsentiert Kommissar Llob die Fakten, die er in dem Bedürfnis, seinen Assistenten endlich frei zu bekommen, benötigt: Der Namenlose habe ein Massaker überlebt, das sich 1962, in den letzten Tagen des Widerstandskampfes gegen die französische Kolonialmacht, ereignet hatte. Haj Thobane war in jener Zeit in der namenlosen Provinzgegend der Führer einer revolutionären Gruppe. Hier wurde sein legendärer Ruf als Held des Unabhängigkeitskampfes begründet, der ihm in der Gegenwart jene machvolle Position beschert, die ihn in den Kreis der Unantastbaren im Lande befördert.

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Der Leser befindet sich zu diesem Zeitpunkt etwa in der Hälfte des Romans und spürt deutlich, dass dieser erst jetzt seine wahre Qualität ans Licht bringt. Erst jetzt erschließt sich die politische Dimension der kriminellen Machenschaften, die im Vergleich zu dem, was für die Mächtigen auf dem Spiele steht, wie ein gelegentliches Rülpsen infolge einer kleinen Magenverstimmung erscheinen. Und eine Menge Fragen stürzen über den Leser herein, während er das ungleiche Paar, die schöne Historikerin und den zu diesem Zeitpunkt noch nicht halb impotenten Kommissar bei seinen Nachforschungen begleitet. Wie kommt es, dass immer dann, wenn die Ermittlungen im verrinnenden Sande der Zeit zu verlaufen oder an den Interessen der Provinzbosse zu scheitern drohen, die Journalistin mit neuen Spuren auftrumpft? Ist es allein der Sog der Ereignisse, der fortwährend an den Verkrustungen der Vergangenheit nagend, diese aufzulösen beginnt? Immer deutlicher tritt der Mechanismus zu Tage, der vielen der siegreichen Mudjahidin zu einflussreichen Posten verhalf. Er spiegelt im Mikrokosmos der Provinzgemeinden wider, was an den großen, den tatsächlichen Schaltstellen der Macht in Algerien geschieht.

Die Handlung spielt im Jahre 1988, kurz bevor das Land im Bürgerkrieg versinken und eine neue Macht der Korruption und dem Machtgeklüngel ein Ende bereiten wird. In diesem Sinne hält der Roman eine Schlüsselstellung im Schaffen Yasmina Khadras, bildet er doch die Brücke zu dem beherrschenden Thema dieses außergewöhnlichen Schriftstellers: den extremen Ausformungen des islamischen Fundamentalismus.

(Originaltitel: »La part du mort«)

2/2009 © by Janko Kozmus

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