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Ngugi wa Thiong'o, Herr der Krähen
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Die vorliegende Rezension basiert auf der gebundenen Ausgabe
(Zürich 2005)
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Rezension: → Ngugi wa Thiong'o - Herr der Krähen

Vom Zauber der Tradition und ihrer Überwindung

Eine große Zahl von Personen bevölkert diesen in der deutschen Übersetzung knapp tausend Seiten umfassenden Roman, und es ist der Umsicht des Verlags zu danken, dass dem Leser in Form einer als Lesezeichen zu nutzenden Karte, auf der alle Handelnden der ersten und auch der zweiten Reihe aufgeführt sind, eine hilfreiche Übersicht mitgegeben wird, die ihm einen mühelosen Einstieg in die sich schnell weit verzweigende Romanhandlung ermöglicht. Die beiden wichtigsten Figuren sind der Namensgeber des Buches, der Herr der Krähen und sein Gegenpol, der Herrscher des fiktiven afrikanischen Staates Aburíria. Der Herr der Krähen heißt mit bürgerlichen Namen Kamítí, der Autokrat des an das Herkunftsland des Autors erinnernden Kenia wird einfach nur "der Herrscher" genannt; er ist so lange im Amt, dass er sich selbst kaum erinnern kann, wann er es übernommen hat.

Während der Herrscher sogleich die Szenerie betritt, indem fünf Theorien für die seltsame Krankheit, die ihn befallen habe, ausgebreitet werden, muss sich Kamítí bis ans Ende des ersten von fünf (Dämonen-)Büchern gedulden, dem Buch "Dämonen der Macht", bis er in Erscheinung tritt: Ein junger Mann, der erkennbar schon bessere Tage erlebt hat, mit schäbigem Anzug, getrieben von Hunger und Verzweiflung, so dass er kurzerhand seinen geschundenen Körper verlässt, sich seinem Vogel-Ich anvertraut und über sein Land erhebt, um dem Leser, diesem seinen Blick leihend, sogleich die Widersprüche in Aburíria erkennen zu lassen: Familien, die mit ihren Kindern in "Hütten aus Pappe, Schrottteilen, abgefahrenen Reifen und Plastik" hausen und gleich neben diesen Elendshütten "Herrenhäuser aus Ziegeln, Stein, Glas und Beton". Während Kamítí als Adler über die Gegend gleitet, kann er sehen, wie einige Müllmänner seine leblose Hülle entdecken und diese auf die Ladefläche ihres Wagens packen. Er beschließt, in seinen Körper zurückzukehren, der sich mit einem Niesen gegen den Gestank auf der Ladefläche wehrt. Die Müllmänner erschrecken, lassen ihren Wagen im Stich und rennen mit den Rufen "Teufel" und "Satan" davon.

Diese Szene ist sypmtomatisch für das Verfahren, mit dem Ngugi wa Thiong’o dem Geschehen Antrieb verleiht. Das Verkennen eines vorliegenden Tatbestands – hier der für tot gehaltene Kamítí – verleiht der Handlung immer neue, überraschende Wendungen. Diese Art von Fehleinschätzung ist nicht allein in der Naivität der einfachen Leute anzutreffen, sondern reicht bis in die Spitze des Staates, bis zum Herrscher selbst sowie seinen beiden bedeutendsten – rivalisierenden – Ministern, dem Minister für Auswärtige Angelegenheiten Markus Machokoli und Silver Skiokuu, dem Herrn über den Geheimdienst. Auch sie sind allzu schnell dabei, als Ursache ungewöhnlicher Begebenheiten mystische Kräfte und Zauberei zu unterstellen. Selbiger Mechanismus verschafft Kamítí den Ruf eines Zauberers. Doch Ngugi belässt es nicht bei diesem, eher zufälligem Zusammentreffen von Ereignissen, das seiner Hauptfigur Kontur und Schärfe verleiht und dem Leser eine einfache Antwort auf die Frage "Wie ...", "Wie macht der Herr der Krähen das?" verweigert, sondern fügt dem Zufall eine Art Prädisposition hinzu.

Als Kamítí, nachdem er zwischenzeitlich der Hauptstadt Eldares und der Profession des Zauberers den Rücken kehrt und in der Einsamkeit der Natur meditative Besinnung gesucht hat, in sein Heimatdorf zurückkehrt und auf seinen Vater trifft, erzählt dieser ihm, dass ihre Familie von alters her, so auch der Großvater, gewisse metaphysische Fähigkeiten besessen habe, für deren Vorhandensein auch bei Kamítí deutliche Zeichen sprachen. Er habe seinem Sohn jedoch nichts davon erzählt, um ihm ein modernes Leben und somit Wohlstand zu ermöglichen. So hat denn Kamítí nichtsahnend in der Bildung seinen Weg gesucht, indem er in Indien Betriebswirtschaft studierte und nebenbei sehr viel über die Mythologie dieses Landes erfuhr und ihr einigen Stellenwert beimaß. In seine Heimat zurückgekehrt, ereilte ihn aber das gleiche Los wie viele andere Hochschulabsolventen: die Arbeitslosigkeit.

Der 1938 geborene Ngugi wa Thiong'o verfasste dieses Buch zunächst in Kikuyu, der Sprache seines Volkes und übertrug es dann selbst ins Englische, ein Verfahren, das er zuvor bereits bei anderen Büchern anwandte. Die englische Fassung des Romans wurde unter dem Titel Wizard of the Crow bereits im Jahre 2006 herausgegeben, bevor es dann dieses Jahr in Deutsch erschien; eine Verzögerung, die bei dem immensen Umfang des Werks leicht nachvollziehbar ist. Aus der ursprünglichen Kikuyu-Fassung übrig geblieben sind noch einige Namen, wie beispielsweise Kamítí, was für "Kleine Bäume" steht oder Nyawira, was "Arbeiterin" bedeutet, was ebenfalls der beigefügten Karte zu entnehmen ist.

Mit Nyawira, der Geliebten und geheimen Verbündeten des Herrn der Krähen rückt Ngugi wa Thiong’o eine starke Frauenfigur ins Zentrum seines Romans. Sie arbeitet als Sekretärin für den Bauunternehmer Titus Tajirika, den Leiter des Mammutprojekts "Marching to Heaven" und gehört dem Untergrund an, der für die Ablösung der korrupten Macht kämpft. Wie Tajirika als erster einer rätselhaften Krankheit verfällt – trotz größter Anstrengung zu sprechen kann er nur noch das Wörtchen "wenn" artikulieren – und er das Arbeitsfeld seiner Gattin Vinjinia überlassen muss, steht Nyawira dieser tatkräftig zur Seite; gemeinsam entwickeln sie größere Kompetenz, als sie Tajirika an den Tag legte. Auch als dieser, wieder zu Kraft gekommen, seine Frau, die er gleichwohl liebt, verprügelt, ist es Nyawira, die für ein Ende der häuslichen Gewalt sorgt; unversehens wird der Täter zum Opfer, ungheuerlicherweise von Frauen. Ein Vorgang, der der internationalen Presse nicht entgeht und so seinen langen Weg in die neue Welt zur Global Bank findet, die den Kredit für "Marching to Heaven", dass Aburíria in die erste Reihe afrikanischer Staaten bringen, ja selbst den Westen überflügeln sollte, auch aus diesem Grund verweigert. Neben anderen Ereignissen, die die Autorität des Herrschers untergraben und die dieser, aufgehetzt durch seine Minister, ebenfalls Nyawira zuschreibt, führt dies dazu, dass Nyawira zur Staatsfeindin N° 1 erklärt wird und schließlich für längere Zeit von der Bildfläche verschwindet.

Die Handlung des Romans Herr der Krähen vollzieht sich in zahlreichen Erzählperspektiven. So kommen die wichtigsten Personen zu ihrem Recht, am hellsten jedoch strahlt ein gewisser Arigaigai Gathere alias A.G., der sich vom Saulus zum Paulus wandelt, vom Verfolger Kamítís – als Constable of Police – zum glühenden Verehrer des Herrn der Krähen. Er gleicht dem klassischen ostafrikanischen Geschichtenerzähler, einem Griot, wenngleich er seine Geschichten vom Zauberer und seiner Assistentin Nyawira und vielen anderen wie des Herrschers Augen und Ohren, Machokali (Swahili; Macho: "Auge(n)" u. kali: "scharf/böse") und Sikiokuu (Swahili: Siki: "Ohr(en)", -kuu: "größer") mit Vorliebe in Kneipen vorträgt. Mit der Wahrheit nimmt er es sehr genau, lässt man einmal außer Acht, dass gerade auch er einem hohen Maß an Verkennung der Fakten unterliegt. Dann wieder biegt er diese Wahrheit um des billigen Effekts wegen bis zum Brechen, so dass es selbst trunkenen Zuhörern zu viel wird und sie ihn davonjagen.

Der permanente Perspektivwechsel hält das Interesse des Lesers wach, durch Nutzung von Versatzstücken aus der "wahren Welt" gelingt es Ngugi wa Thiong’o, seine Dichtung mit der notwendigen Verankerung in der Realität zu versehen. Wenn er von der Vorliebe für des Herrschers Leopardenfell spricht, so schwebt aus jener "wahren Welt" sogleich der Name Mobutu herüber und nennt er den abgeänderten Namen Jean-Pierre Sartre, so wirkt – ohne weitere Erklärung – die Sonderstellung des Sartre aus der "wahren Welt" in das Reich des Herrn der Krähen.

Die verschiedenen Perspektiven erlauben es dem Autor, sehr nah ans Geschehen zu rücken, bis ins Zentrum der Macht, dann wieder abzurücken, um dem Leser in der Abstraktion der Erzählung durch Randfiguren Übersicht zu gewähren. Positive Würze, wie liebevolle Zuneigung oder Solidarität, mengt er dem Gericht selten bei, häufigste Beilage ist der Humor, der sich bis hin zu Spott und Häme streckt und so der Gesamttextur satirischen Biss verleiht.

Die Form der Satire bringt zweierlei mit sich: Einmal entschädigt sie den Leser reichlich dafür, dass er in Herr der Krähen nicht mehr das vermeintlich ursprüngliche – romantische oder dumpf vor sich hin brütende – Afrika vorfindet, sondern eine Welt, in die längst auch die Globalisierung Einzug gehalten hat; die Satire kittet sozusagen die Risse der globalen Gleichförmigkeit. Gleichzeitig birgt sie in ihrer scharfen Form die Gefahr in sich, den westlichen Leser dazu zu verleiten, den Inhalt als "überzogen" zu empfinden, was der beabsichtigten Kritik des politischen Systems eben jene Schärfe nimmt und das Bild vom rückständigen Afrika zum Leben zu erwecken droht. Ruft man sich jedoch in Erinnerung, welche absurden Rituale sich "am Hofe" eines Idi Amin oder eines Mobutu, dem Mann mit jenem Leopardenfell zugetragen haben, wirken die im Buch beschriebenen Absurditäten weit weniger irreal und abseitig, sondern unterstreichen lediglich die möglichen Irrwege menschlicher Psyche, die selbst die Kreativität eines Romanciers vom Schlage des Ngugi wa Thiong’o eher noch in den Schatten stellt.

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Vom Zauber der Tradition und ihrer Überwindung
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Ngugi wa Thiong’o hat mit Kamítí eine Romangestalt geschaffen, die für den Versuch seiner Welt steht, die Tradition hinter sich zu lassen. Weder die Intention des Vaters, ihn neue Wege gehen zu lassen, noch Kamítís eigener Bildungsanspruch bewahren ihn vor dem Abdriften in ausgetretene Wege. Gegen seinen Willen wird er zum Zauberer erhoben. Die Figur des Herrn der Krähen stellt eine Verdichtung dar, die reinste Verkörperung der Schwierigkeiten, die der Versuch mit sich bringt, das Rückständige, den Aberglauben, die Welt der Hexen und Zauberer zu überwinden und in das moderne Reich des Wohlstands zu treten. Und so sehr sich Kamítí auch dagegen wehrt, wird er doch immer wieder von seiner Umwelt in die Rolle des Herrn der Krähen hineingedrängt. Das einfache Volk braucht den Zauberer, um sich von seinen Nöten zumindest zeitweise zu lösen, die Ehrgeizlinge erhoffen sich von ihm die Ebnung einer Bahn nach oben und die Reichen und Mächtigen sehen in ihm die Möglichkeit des Erhalts des bereits Erreichten. Im Spannungsfeld dieser Erwartungshaltungen droht Kamítís eigenes (Liebes-)Glück zu zerbrechen. Zum Showdown will er seinem eigenen Willen folgen, nicht ahnend, dass ihm erneut eine besondere Rolle zugedacht ist an dem Tag, an dem das Volk zum Widerstand aufgefordert ist und zu dem der bauernschlaue Herrscher nachträglich zur Volksversammlung aufruft.

(Originaltitel »Mûrogi was Kagogo« engl. Übersetzung aus dem Kikuyu vom Autor selbst: »Wizard of the Crow«)

12/2011 © by Janko Kozmus

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