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Maaza Mengiste, Unter den Augen des Löwen
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Rezension: → Maaza Mengiste - Unter den Augen des Löwen

Leichenberge und geborgene Leichen

Dieses Buch basiere auf der äthiopischen Revolution der 1970er Jahre, schreibt die 1971 in Addis Abeba geborene Autorin Maaza Mengiste in ihrem Nachwort, doch habe sie sich beim Verfassen des Romans viele künstlerische Freiheiten erlaubt. Einige der handelnden Figuren hätten reale Personen als Vorlage, zuallererst den Kaiser Haile Selassie und seinen Premierminister Aklilu Habtewold, ihre Darstellung dagegen sei fiktiv.

In der Hitze von OP-Leuchten schwitzt ein behandelnder Arzt. Er operiert die Schussverletzung eines jungen Mannes und macht sich erschreckt bewusst, der Schwerverletzte könnte ebensogut der jüngere seiner Söhne sein. Gleich in dieser Eingangsszene wird der Leser mit den Grundelementen des Romans konfrontiert. Da ist zum einen der Arzt und Familienvater Hailu und zum anderen der Verletzte. Das Opfer steht für die Unruhen im Lande, Hailu verkörpert den Versuch, sich aus den Geschehnissen herauszuhalten. Er ist der Prototyp des zweifelnden Intellektuellen. Die Missstände sind ihm bewusst, er weigert sich jedoch, Partei zu ergreifen, sei es, weil er sich als Gewaltgegner sieht oder aus Angst um seine Familie, für die er sich verantwortlich fühlt und an deren Beispiel die Autorin stellvertretend die Risse und Widersprüche aufzeigt, die sich durch das Land ziehen.

Man schreibt das Jahr 1974. Das Volk empört sich gegen die absolutistische Machtfülle des Kaisers, der noch bei den letztjährigen Parlamentswahlen gezeigt hat, nicht willens zu sein, sich auch nur Teile der Macht aus den Händen nehmen zu lassen. Zudem herrscht Nahrungsmittelknappheit im ländlichen Äthiopien. Das aufständische Volk wird durch die fortschrittliche Studentenschaft repräsentiert, die sich lautstark bei Demonstrationen zu Wort meldet. Zu ihnen zählt Dawit eben jener Sohn des Arztes Hailu. Dessen Bruder Yonas kritisiert die Missstände ebenfalls, ist aber gegen ein offensives Eintreten für deren Behebung. Seine Zurückhaltung scheint weniger einem politisch-taktischem Kalkül zu entspringen als der Furcht vor Konsequenzen. Und obwohl Hailu alles in seiner Macht Erdenkliche tut, seinen Sohn Dawit vor unüberlegtem Aktionismus zu bewahren, bringt er diesem mehr Achtung und Liebe entgegen als seinem älteren Sohn. Auch Selam, die Mutter der Beiden, hat ein besonders inniges Verhältnis zu Dawit.

Die Krankheit und das Sterben von Selam nimmt im ersten Teil des Buches viel Raum ein. Doch selbst die Sorge um sie vermag es nicht, Spannungen innerhalb der Familie zu überdecken, und erste Risse werden sichtbar. Parallel dazu zeigt die Autorin die Verzweiflung und den psychischen Niedergang des Kaisers Haile Selassie, der dessen Entmachtung begleitet. Im darauf folgenden Jahr, Maaza ist fünf Jahre alt, sieht sich im realen Leben die Familie Mengiste, die in der Zeit der Revolution mehrere Mitglieder verliert, gezwungen, das Land zu verlassen. Nach den Stationen Lagos in Nigeria und Nairobi in Kenia wird die Autorin schließlich in den USA aufwachsen.

Während Hailu im Verlauf der Romanhandlung zunehmend eine tragische Rolle zufällt, nimmt sein Sohn Dawit zweifelsfrei die des Helden - in all seiner Widersprüchlichkeit - ein. An seiner Seite tummeln sich mehrere ähnlich bedeutende Protagonisten und unzählige Nebenfiguren in der breit gefächerten Handlung. Einen besonderen Platz nimmt Yonas' Ehefrau Sara ein. Sie scheint einiges von der Tatkraft ihrer als Heldin verehrten Mutter geerbt zu haben, die einst einen sie vergewaltigenden italienischen General erdolchte. An der Figur von Mickey, Dawits aus einfachen Verhältnissen stammenden Schul- und Jugendfreund, wird exemplarisch der Widerspruch zwischen den Schichten dargestellt, der Terminologie der neuen Machthaber folgend scheint der Begriff Klassenwiderspruch durchaus angemessen. Trotz herausragender schulischer Leistungen kann Mickey keinen Universitätsplatz ergattern und geht - mangels Alternativen - desillusioniert zum Militär. Seine Perspektive nutzt Maaza Mengiste, um dem Leser Einblick hinter die Kullissen des Militär- und Machtapparats zu gewähren. Dawits Freundin Lily engagiert sich gegen das ancien regime des Kaisers und für die neuen Machthaber. An Dawits Vorwurf, sie opfere ihre Weltanschauung dem Karrierestreben, droht die Beziehung zu scheitern, da er das autoritäre Auftreten des neuen Regimes ebenso wie das über Jahrhunderte tradierte ablehnt und ein entsprechendes Verhalten von Lily erwartet.

Auf dem Anwesen der Arztfamilie lebt die für die Weisheit des Volkes stehende alte Emama Seble, einstige Geliebte des Kioskbesitzers Melaku, der sich der Kontrolle der arroganten, colatrinkenden - die Idioten, bemerkt Melaku, wüssten nicht mal, dass Cola ein imperialistisches Getränk ist - Soldaten erwehren muss und sich widerwillig in den Widerstand einspannen lässt.

Eine besonders perfide Form der Gewalt übt die linker Ideiologie anhängende Militärregierung aus; sie stellt die getöteten Oppositionellen zur Schau, indem sie deren Leichen in den Straßen der Haupstadt liegen lässt und bei Strafe verbietet, diese zu bergen und zu beerdigen. Andere getötete Aufständische werden an verrotteten Orten gehortet und nur gegen Bares den Angehörigen überlassen. Da der Begriff Widerstand sehr weit gefasst wird, sind viele Bürger betroffen, schon ein Hauch von Kritik am System genügt, um in Lebensgefahr zu geraten. Und die Überwachung durch die neuen Machthaber wird immer enger gestrickt. So wird einem Wohnviertel, dem sog. kebele, eine Art Blockwart zugeteilt, der sich um das Wohl der Anwohner und um gerechte Verteilung des Wohnraums zu kümmern habe, seine Position aber zur Bespitzelung nutzt.

Als Dawit eines Tages während einer Demonstration auf offener Straße förmlich über die Leiche einer ihm bekannten jungen Frau stolpert, versucht er diese zu bergen, um sie später den Anverwandten zu übergeben. Diese erste, nach einigen Hindernissen umgesetzte Tat ermöglicht dem jugendlich Übermütigen den Zutritt in den heiß ersehnten Widerstand und wird seinen Beitrag fürderhin bestimmen. Bald wird deutlich, dass er wegen der großen Zahl der Leichen Hilfe benötigt, die er von einer Seite erhält, die für den Leser wie für ihn selbst völlig unerwartet ist. Auch sonst wartet dieser Roman an etlichen Stellen mit Überraschungen auf, die den Leser für einige wenige Stellen reichlich entschädigen, an denen der im Allgemeinen inhaltlich wohl platzierte Sprachzauber der Autorin an die Grenzen des Melodramatischen stößt. Dies gilt m. E. insbesondere für die Beschreibung von Selams Sterben und deren buchstäbliche Himmelfahrt, dagegen sollen Wendungen wie die von den "nächtlichen Fahrten durch die Eingeweide der verlassenen Stadt" dem Geschmack des Lesens überlassen sein.

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Leichenberge und
geborgene Leichen
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In Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs werden die Menschen vielfach gezwungen ihr wahres Ich zu offenbaren. Ohne explizit darauf zu verweisen, gelingt es Maaza Mengiste in ihrem Erstlingsroman Unter den Augen des Löwen entsprechende Entwicklungen plausibel und nachvollziehbar herauszuarbeiten, indem sie den Leser ganz nah an die psychische Befindlichkeit ihrer Figuren führt. Hier nur einige von vielen Beispielen: Dawit findet seinen Platz im Widerstand, wird jedoch gezwungen, seine Beweggründe zu hinterfragen: Beim Kioskbesitzer Melaku bildet Sühne für Fehlverhalten in der Vergangenheit die Motivation für sein Engagement. Dagegen scheint gerade Hailus Festhalten an seiner humanitären Überzeugung ihn zu einer folgenreichen Entscheidung zu verleiten. Eines Tages wird dem Arzt, der sein Krankenhaus seit es unter sowjetischer Verwaltung steht nur noch durch einen Hintereingang betritt, von Soldaten des revolutionären Regimes eine junge Frau überantwortet. Er kämpft um das Leben der offensichtlich Gefolterten und Vergewaltigten. Doch plagt ihn, der von den Anschauungen seines Volkes genaue Kenntnis beistzt, gleichzeitig der Gedanke, dass für diese Frau ein Leben in Würde und Freude nicht mehr denkbar ist. Er entschließt sich zu einem drastischen Schritt, der seinen Platz innerhalb der Familie neu definieren, gleichzeitig aber seine integrative Stärke unterstreichen wird.

(Originaltitel »Beneath the Lion's Gaze« Herausgeber: Indra Wussow; Übersetzung: Andreas Jandl)

10/2012 © by Janko Kozmus

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