DIE MARABOUT-SEITE
linie

Bitala, Hundert Jahre Finsternis
linie
linie
MICHAEL BITALA: HUNDERT JAHRE FINSTERNIS ... bei amazon bestellen
linie
Amazon-Bestellung:
Bitte MouseOver-Bild anklicken!
linie

Rezension: Michael Bitala - Hundert Jahre Finsternis ...

Afrikas verlorene Menschen

Seit ca. sechs Jahren lebt Michael Bitala im südafrikanischen Johannesburg, dem Ausgangspunkt für zahlreiche Reisen ins Innere des Kontinents, die der Afrika-Korrespondent im Vorwort seiner Reportage-Sammlung Hundert Jahre Finsternis. Afrikanische Schlaglichter, als »Höllenfahrten« bezeichnet und nicht unternommen habe, »weil ich das Klischee des Katastrophenkontinents bedienen wollte«, vielmehr wollte er »oft nur wissen, wie Menschen in solchen Horrorgegenden zu überleben versuchen«. Und dann nennt er Beispiele, die sofort die Neugier des Lesers für die 17 Reportagen erregen; sie stellen eine Auswahl seiner in den vergangenen Jahren in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Artikel dar. Für sie erhielt er - gemeinsam mit anderen Journalisten - im November des vergangenen Jahres den Medienpreis der Kindernothilfe-Stiftung, als »Vertreter eines Journalismus, der die Realität abbilde statt zu inszenieren«.

Eigentlich entspricht die Begründung einer Selbstverständlichkeit, gleichzeitig stellt sie ein hohes Lob dar, dessen Inhalt zu überprüfen wäre. Leider geriete man da ganz schnell in eine weltanschaulich motivierte Diskussion. Denn was heißt es schon, Realität abzubilden? Ein Blick ins Lexikon genügt, um zu sehen, was man schon ahnte, nämlich dass jede philosophische Schule ihre eigenen Definitionen vom Begriff »Realität«, »Realismus«, »Wirklichkeit« usw. prägte. Und um die Bedeutung des Abbildens streiten Vertreter der sog. Abbild- oder Widerspiegelungstheorie seit Demokrit, über das Mittelalter bis hin zu Marx und den modernsten Sprachphilosophen. Deshalb erscheint es ratsam, die Definitionsfrage beiseite zu lassen und sich der Kernaussage zu widmen, die ja gleichermaßen der Minimalplattform eines jeden seriösen Journalismus entspricht.

Danach habe sich der Berichterstatter nach Kräften so zu verhalten, als ob er eine Tarnkappe tragen würde. Ein schwieriges Unterfangen in einem Kontinent, in dem schon die äußerst begrenzten Transportmöglichkeiten manches Mal zu Ellbogenpräsenz nötigen, im Extremfall wird man gezwungen sein, einem Einheimischen den Platz wegzunehmen oder sich mit äußerst waghalsigen Beförderungsmitteln anzufreunden. Wie es der Autor Bitala tut, als er sich gezwungen sieht, eine »verrostete russische Antonow« zu besteigen, um die Urwaldstadt Kisangani zu verlassen, da der umgebende Urwald, in dem Bakterien und Rebellen um die Vorherrschaft kämpfen, undurchdringlich scheint. Der Pilot ist betrunken, im letzten Moment vor dem Start werden noch einige Säcke rausgeworfen im verzweifelten Versuch, das Übergewicht zu mindern. Das dürfte denn eine der oben angesprochenen »Höllenfahrten« werden, wobei es sich in diesem Fall mehr um einen Höllenflug handelt!

Hat der Berichterstatter dann seinen nächsten Zielort erreicht, heißt es, das Vorgefundene vorbehaltlos, vorurteilsfrei, vollständig - ja, selbstverständlich: nichts hinzufügen und nichts weglassen - und somit objektiv aufzuzeichnen. Das scheint sich relativ einfach zu gestalten, geht es beispielsweise um die Absicht, in Ghana skurille Sargformen zu beschreiben, von der Cola-Flasche über den Turnschuh bis hin zur rosaroten Gebärmutter oder die schreinernden Familienbetriebsinhaber über Beerdigungsvorlieben ihrer Landsleute zu interviewen. Dasselbe gilt für die Befragung des schwedischen Krimi-Autors Mankell über die lokalen Verhältnisse, auch wenn dieser, einer Eigenart folgend, seine Antworten in begrenzten Zeithäppchen offeriert zwischen den Regieanweisungen, die er den Schauspielern seines Teatro Avenida erteilt, das er seit Jahren im Stadtzentrum von Maputo betreibt.

Schwieriger wird es, das Chaos von Monrovia zu schildern, der vom Bürgerkrieg zerrütteten liberianischen Hauptstadt oder den Überblick zu bewahren im nigerianischen Lagos, »In den Straßen der Hoffnungslosigkeit«. Von Inszenierung ist weder hier etwas zu spüren noch in den übrigen Reportagen von Kranken und Krüppeln oder Kindern, die gezwungen sind, ihre Heime und Dörfer im Norden Ugandas zu verlassen und in der einzig größeren Stadt - Gulu - in Straßengräben oder in Ladeneingängen zu übernachten, weil ihre Eltern fürchten müssen, dass sie von den Rebellen, meist selbst Kindern, des Joseph Kony, der sich für die Wiedergeburt der Jungfrau Maria hält, zwangsrekrutiert werden. Bitalas Blick bemüht sich stets um eine objektive Annäherung an vorgefundene Verhältnisse. Sämtliche Reportagen folgen dabei dem nicht unbekannten Muster, den Leser mit Ortsansässigen bekannt zu machen, wobei die eigene Person nur insoweit in Erscheinung tritt als ihre Erfahrung schon als Reflex vorgefundener Bedingungen gelten muss, vom Einzelfall auf das Gesamte zu sprechen zu kommen, das mit einigen historischen Daten und Statistiken aufbereitet wird, um am Ende meist wieder zu dem Individuum zurückzukehren, das sich im Überlebenskampf behauptet. Bitalas Sprache bleibt dabei prägnant und unverschnörkelt, was eine gelegentliche plastische Darstellung nicht ausschließt, wenn dies die Situation erfordert: »Die Menschen schreien, schwitzen, stinken, stoßen. Sie stehen Körper an Körper und pressen sich gnadenlos die Ellenbogen in die Leiber. Es sind in diesem engen, vergitterten Gang nur noch zwanzig Meter bis zur jetzt schon überfüllten Fähre, aber keiner kommt mehr durch.«

Download
RTF-Datei
Hundert Jahre Finsternis

PDF-Datei

Trotz des vertrauten Darstellungsmusters und der Tatsache, dass einerseits alle Reportagen bereits in einer Tageszeitung veröffentlicht wurden und sie andererseits natürlich nur einen begrenzten Ausschnitt des Lebens auf dem schwarzen Kontinents zeigen können, entsteht beim Leser der Eindruck einen Überblick über Lebensbedingungen und Widersprüche im gesamten Afrika zu erhalten. Es sind Verhältnisse, die geprägt sind von Armut und Not, von postkolonialer Ausbeutung und Brutalität, die aber auch hier und da Hoffnung aufscheinen lassen. Der Autor lässt den Leser am befreienden Element teilhaben, wenn er von praktizierter Solidarität unter den ortsansässigen Menschen selbst spricht oder vom Versuch das schier Unmögliche zu unternehmen, die Aufarbeitung eines Völkermords, was in Ruanda geschieht durch den Wiedereinsatz der traditionellen sog. »Gacaca-Gerichte«, deren vorrangiges Ziel nicht in der Bestrafung der Täter, sondern in der Erhaltung des sozialen Friedens besteht.

08/2005 © by Janko Kozmus

Lesen Sie auch die Besprechungen zu den Literatarischen Reportagen von Ryszard Kapuscinski
sowie zu einem Buch über den Konflikt im Südsudan:

Deborah Scroggins : Emmas Krieg (zu: Die weiße Kriegerin)

Ryszard Kapuscinski: Ein Ort, den es nicht gibt (zu: Afrikanisches Fieber)

linie