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Rezension: → Elias Khoury - Yalo

Des Menschen Sein am tiefsten Punkt

Der Handlungszeitraum des Romans Yalo umfasst ca. zwei Monate zu Anfang der 1990er Jahre. Ort der Handlung ist die Umgebung und das Zentrum der libanesischen Metropole Beirut, der Geburts- und Heimatstadt des Autors Elias Khoury. Vor ca. zwei Jahren fand der anderthalb Jahrzehnte währende Bürgerkrieg ein Ende, die Prägung aber von Menschen, wie die des Protagonisten Yalo, währt für den Rest des Lebens. Yalo kennt kaum etwas anderes als diesen Krieg. Und er verabscheut ihn so sehr, dass er ihm zu entfliehen sucht. Körperlich gelingt ihm dies auch, gemeinsam mit einem Freund. Doch in Paris wartet nur neues Unglück auf den Protagonisten. Gedemütigt nimmt er die Hilfe eines reichen Landsmannes an, der ihn zu sich nach Ballûna holt, ganz in die Nähe von Beirut. Hier beginnt das neue Leben für Yalo, scheint es zumindest. So wird er es während der beiden Monate in Haft den weißen Blättern anvertrauen. Immer wieder wird er Teile seiner Biografie, von seinen Bewachern und Folterern dazu gezwungen, zu Papier bringen. Nie sind diese mit dem zufrieden, was er ihnen berichtet. Dabei ist er so bemüht, es ihnen Recht zu machen. Gesteht Dinge, die er gar nicht verübte. Er lügt für sie. Er verleugnet sich, er spaltet sich in zwei Personen. Ob es das ist, was seine Bewacher erreichen wollten? Elias Khoury berichtet davon, als sei es ein übliches Verfahren. Insbesondere politische Häftlinge in arabischen Gefängnissen würden nach körperlicher Folterung dazu gezwungen, ihre Lebensgeschichte niederzuschreiben, immer wieder. Der von Yalo durch Schmerz abgespaltene Ich-Erzähler meint, das gehe nicht, unmöglich könne der Mensch sein gesamtes Leben niederschreiben.

Gleichwohl erfährt der Leser viel von diesem Leben: die in großen Teilen sonderbare, mindestens aber ungewöhnliche Geschichte von Daniel Hâbîl Abjad alias Yalo, der einer christlichen Minderheit angehört. Alles während dieser beiden Monate in Haft zu Papier gebracht von einem Menschen, der schon vor der Haft in seiner eigenen Welt lebte, der eigene Sprachen entwarf, in Wörtern und Bildern. Bestimmte Wörter beispielsweise definierte er nach Belieben um: Von seiner Herrin hörte immer wieder: "komm, sag Randa, Randa" und nannte von da an jede sexuelle Betätigung "randan". Anderen Wörtern verlieh er Gestalt: "Sobald er ein Wort oder einen Satz hörte, nahmen diese Gestalt an. Statt Sprache nur zu hören oder zu lesen, hatte er das Gefühl überall mit ihr wie mit einem Gegenstand zusammenzuprallen." Hörte er Worte wie "Ton" oder "Axt" von seinem Großvater, den er respektierte, der ihm jedoch auch Angst einflößte, sah er eine Axt wie ein Damoklesschwert über sich schweben oder befürchtete, seinen Großvater auf tönernen Füßen zerbrechen zu sehen. Der Leser sieht sich einem Menschen ganz eigener Natur gegenüber. Da ist Einer, der eine Welt mit eigenen Regeln erschafft, keinem moralischen Imperativ folgend, dann wieder ein, in seiner Naivität rührendes und höchst widersprüchliches Regelwerk von Gut und Böse, von hingebungsvoller Dankbarkeit und Zärtlichkeit beachtend, um wieder zurückzufallen in die Welt ohne Verknüpfung zu irgendeinem System, das Schuld und Bestrafung beinhalten könnte; eine Welt neben der Welt, neben seiner Stadt Beirut, etwas außerhalb gelegen, ein Waldstück, eine einsame Villa, die er beschützt und sein Gartenhäuschen, seine Geborgenheit, die wiederum ihn zu schützen scheint vor jeglichem Zugriff. Er geht auf die Pirsch, er scheint sich jeglicher Zurechenbarkeit von außen zu entziehen. Er wird zum Dieb und Vergewaltiger, weniger aus leidenschaftlicher Perversion als aus Langeweile und zufällig erfolgter Erregung, des Menschen Sein nahe am tiefsten Punkt. Bis sich eines Tages ein Opfer wehrt, das die bloße Tatsache, missbraucht worden zu sein, nicht für eine Schande hält, die nicht ans Tageslicht gelangen dürfe. Ausgerechnet jene Schîrîn, die er nimmt, in die er sich verliebt. Und als er endlich glauben kann, sie erwidere sein Gefühl, liefert sie ihn dem Zugriff aus. Also doch, es ist möglich, er ist von dieser Welt, zumindest ist es sein Körper.

Schließlich flüchtet er in die Spaltung, Yalo, das ist der Gefolterte, das Ich schwebt über dem Sein. Warum hat Gott uns erschaffen, fragt sich dieses Ich. "Etwa um Leid zu erdulden und welches auszuteilen?" Yalo ist anderer Ansicht, er glaubt nicht an die Bedeutungslosigkeit des Lebens, er habe die Erfahrung gemacht, "dass der Mensch erst zu sein beginnt, wenn er am tiefsten Punkt angelangt ist".

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Bevor es soweit ist, erfolgen Einschnitte im Leben eines Yalo. Als sein Freund Alexi ihm erzählt, Spaß dabei empfunden zu haben, als er einen Menschen, "diesen Feigling", getötet habe, schämt sich Yalo, einer solchen Herausforderung ausgesetzt, gekotzt und sich regelrecht eingeschissen zu haben. Fortan, beschließt er, würde er bei solchen "Metzeleien" auch seinen Spaß haben. Alexi ist ein Mensch, der Yalo zur unerlaubten Entfernung von der Truppe bewegt und ihn in Paris einer schweren Prüfung aussetzt: des Menschen Sein nahe am tiefsten Punkt.

Yalo gehört wie seine Mutter und deren Vater, sein Großvater, der Minderheit der Syro-Aramäer an. Und alleine die Tatsache, Christ zu sein, gab offensichtilich den Ausschlag dafür, sich – nachdem er es gelernt hat, Grauen, ausgedrückt in purer Panik, in Angst zu verwandeln – bei den Falangisten, den Forces Libanaises, einzureihen, eine Vermutung, Elias Khoury sagt dazu nichts. Auch berichtet der bis 1976 für den palästinensischen Widerstand eintretende Autor und Verfasser des palästinensichen Epos Das Tor zur Sonne nicht von der Kollaboration dieser Parteigänger mit der israelischen Besatzerarmee.

Viel erfährt der Leser von dem kaum im westlichen Bewusstsein verankerten Genozid an dieser Volksgruppe, die die Übersetzerin Leila Chammaa im Romankontext "Surjojo" nennt. Der wissenschaftliche Konsensbegriff lautet "Syro-Aramäer" erfahren wir dankenswerterweise in ihrer Nachbemerkung, worin sie auch Näheres zum Völkermord ausführt, bei dem „500.000 Menschen getötet“ wurden.

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In sprachlicher Einfachheit schafft Elias Khoury jene vollendete Klarheit, die der Charakterstudie eines Narren oder Idioten nach großen literarischen Vorbildern den Weg ebnen kann. In Wahrheit erzählt er – und verzichtet dabei bewusst weitgehend auf politische Implikationen – die Geschichte eines jungen Mannes namens Yalo, dessen charakterliche Sonderbarkeiten durch die Wirren des Krieges in Perversion umschlagen. Statt seine Kenntnisse in der Kunst der Kalligraphie und der Intarsienarbeit weiter zu vervollkommnen, wird er jeglichen moralischen Halts beraubt und wie viele andere junge Männer dem Sein am tiefsten Punkt ausgesetzt.

(Originaltitel: »Yalo«)

12/2011 © by Janko Kozmus

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