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Kracht: 1979
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Rezension: Christian Kracht - 1979

Auf der Suche nach der verlorenen Menschlichkeit

Durch Faserland wurde Christian Kracht schnell bekannt als wichtiger Vertreter der deutschsprachigen Popliteratur. Er inszenierte sich in dandyhaften Posen, wie sie vor Jahrhundertwenden obligatorisch sind - Oscar Wilde mag zu Krachts großen Vorbildern zählen. Heute allerdings wollen die Spaßliteraten nur noch wenig von ihren Jugendsünden wissen, sie passen sich erneut dem Zeitgeist an und diskutieren die Umbrüche in der Sozialgesellschaft.

Kracht aber geht längst eigene Wege. Vermutlich ging er sie schon während des großen Hypes um die Partyliteratur. Denn eines kann seinem Erstling Faserland (1995) nicht vorgeworfen werden: Obwohl Krachts Erzählduktus oft übertrieben mäandert, hat er doch im Gestus niemals die Partykultur verherrlicht. Im Gegenteil, er hat von Anfang an eine konturenarme Nebelwelt gezeichnet - ein Brad Easton Ellis, der die Gewaltpsychose gegen eine Profilneurose eingetauscht hat.

So besehen ist das Aufgreifen eines ernsten Themas in 1979 weniger überraschend, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Der 1966 in der Schweiz geborene Kracht hat das Partyland Deutschland verlassen und ist zum Kosmopoliten mutiert - er lebt inzwischen in Südostasien. Mit 1979 hat er sich auf 182 lebendigen Seiten von der deutschdeutschtümelnden Nabelschau so weit als möglich distanziert.

Kann man Faserland grob als Untergang des Menschlichen in der Droge und der Dekadenz zusammenfassen, so greift 1979 diese Problematik zwar erneut auf, endet aber diesmal mit der Suche nach der verlorenen Menschlichkeit.

Der schrullig gezeichnete Ich-Erzähler - ein Innenarchitekt mit übertriebenem Hang zum Schöngeistigen -, begleitet seinen Lebensgefährten Christopher auf dessen Fernreisen. In präziser und schnörkelloser Prosa schildert er, wie Christopher auf den Teheraner Diplomatenpartys im Labyrinth seines Drogenkonsums verloren geht und schließlich in einem iranischen Hospital verstirbt. Die iranische Kultur und die Stadt Teheran bilden für diesen Tod in Teheran allerdings lediglich Kulissen, und auch die zeitliche Verortung (1979 wurde die Islamische Republik gegründet) wirkt aufgesetzt, da helfen die gelegentlich eingestreuten Musikkassetten der 70er als Zeitkolorit auch nicht weiter.

Aber diese verschwommene Welt muss nicht nur auf die mangelnde Ortskenntnis des Autoren zurückgeführt werden: Der Ich-Erzähler gerät in eine Welt, die kafkaesk verrätselt bleibt, eine Black Box, in der jeder westliche Reisende automatisch ein "Schuldiger" wird, wenn nicht sogar ein Spion der CIA. Kracht schiebt zwar seine Figuren häufig in konstruiert wirkenden Szenen hin und her, aber mit Hilfe seiner ansonsten sehr straffen Sprache gelingt es ihm, eine Spannung zu erzeugen, die dem Leser über diese allzu filmischen Zufallsfügungen hinweghilft.

Nach dem Tod des Freundes - passgenau in der Mitte des Werkes inszeniert - löst der Ich-Erzähler die letzten Bindungen zu seinen europäischen Wurzeln und verlässt die Welt des Luxus und der Drogen. Diese Wende wird markiert, als ihm in der Deutschen Botschaft in Teheran der Vizekonsul zuraunt: "Wir werden besser sein ... Wir werden uns bessern."

Nach eben dieser Besserung verlangt der Erzähler. Er ist abgebrannt, hilflos, orientierungslos und demotiviert - und in diesem desolaten Zustand begegnet er erneut dem Rumänen Mavrocordato, die Schlüsselfigur des Romans. Mavrocordato bewegt ihn in einem weiteren kryptischen Dialog dazu, nach Tibet zu reisen, um dort einen heiligen Berg zu umrunden.

Der zweite Teil des Romans beginnt mit der nicht näher definierten spirituellen Mission. Der langsame Aufstieg ins Gebirge bewirkt in dem Erzähler einerseits eine Desozialisierung, andererseits aber eine seelische Reanimierung. Nach und nach streift er alles Vergangene ab, seinen Pass, seine Erinnerungen, und schließlich sogar sein hochwertiges Schuhwerk, das sich auflöst als ein letztes Symbol der westlichen Zivilisation: "Die besten Schuhe der Welt konnten also noch nicht einmal einen Monat in den Bergen überstehen, dachte ich ..."

Am Fuße des heiligen Berges trifft er auf eine illustere Truppe von zwölf Tibetern: Zerlumpte, aber fröhliche Gestalten. Einen Moment lang schimmert unverhofft eine Freude auf, gerade in der Entsagung und dem Beschreiten von unbekannten Pfaden scheint eine völlig neue Perspektive auf die Welt möglich. Doch die Hoffnung währt nicht lange. Der im Mittelteil aufgeworfene Gedanke der "Besserung" findet seine zynische Verwirklichung.

6/2003 © by Lothar Glauch

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