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Rezension: Alban Nikolai Herbst - Buenos Aires. Anderswelt

Vom Argonauten zum Infonauten. Der Cyberroman als Interface

Eine Annäherung an das Werk von
Alban Nikolai Herbst, anlässlich Buenos Aires. Anderswelt.

Buenos Aires. Anderswelt ist zwar nicht zu den Neuerscheinungen (Berlin Verlag, 2001) zu zählen, aber bei Alban Nikolai Herbst fällt die Datierung der Werke ohnehin schwer. Nicht nur, dass alle Romane aufeinander aufbauen, sich sozusagen von einem in den nächsten fortschreiben: Die Helden erleben Verwandlungen, inkarnieren sich in neuen Daseinsformen oder reisen quer durch die Zeit, so dass letztendlich nur noch eine einzige Dimension übrig bleibt, die Ausgangs- und Endpunkt aller Narration ist: Das kybernetische System einer volldigitalisierten Welt - weshalb Buenos Aires. Anderswelt als zweites Buch der Anderswelt-Trilogie auch den Untertitel Kybernetischer Roman trägt.

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Die Kybernetik wird als Lehre von Kommunikation und Kontrolle in und zwischen Lebewesen und Maschinen definiert. Informationsverarbeitung und Regelungstechnik sind somit die eigentlichen Hauptfiguren aller Herbstschen Romane. Die ausgesprochene Vielzahl der Protagonisten relativiert bereits ihre Bedeutung, und die Namensgebung zeigt deutlich, dass viele der Akteure eher als schöner Dekor oder als Überbringer von Informationen denn als Charakterfigur in Erscheinung treten: So erinnert Karol Beutlin an den Herrn der Ringe und Thorsten Chagadiel an die Kabbalah, dass es beinahe heimelig anmutet, wenn ein Hans Erich Deters mit seinem Telefonbuchnamen die Nähe zur Realität wiederherstellt.

Hatte Marshall McLuhan seine Zeitgenossen in den 60er Jahren noch provoziert, als er erklärte, "the medium is the message", sind bei Herbst die Romanfiguren selbst die Botschaft geworden, eine Informationseinheit mit klar definierbaren Inhalt.

Herbsts komplexe Prosa erschließt sich leichter, wenn man einige seiner fabulistischen Vorväter kennt:

Da wäre zum Ersten der Kubaner Jose Lezama Lima (1910-1976), dessen Roman Paradiso Alban Nikolai Herbst für den Hörfunk portraitiert hat. Limas labyrinthischer Stil transportiert die absurdesten Gedankengänge, eine intellektuelle Poesie der subtilsten Sorte. Herbst übernimmt die Assoziativität des Kubaners, ersetzt aber dessen Realismus mit einer überbordenden Fantastik, die sämtliche modernen Lesegewohnheiten ein weiteres Mal sprengt.

Zum Zweiten zu nennen ist der US-Amerikaner Thomas Pynchon (geboren 1937), in dessen Werken einige Romanfiguren ebenfalls wiederkehren und alle Bücher sich zu einem kunstvollen Ganzen verdichten. Pynchon entwirft einen surreal-verschwörerischen Kosmos, in dem die Kybernetik nur eine untergeordnete Rolle spielt. Der ehemalige Physiker und Konstrukteur verlässt sich noch ganz auf die Technik des 20. Jahrhunderts, die Mensch und Maschine bereits verschmelzen lässt, allerdings nur auf physikalische Weise. Dieses technikphilosophische Weltbild hat er anhand der V2-Rakete in seinem umfassenden Roman Die Enden der Parabel auf symbolstarke Weise und in drastischen Farben koloriert. Herbst hingegen assoziiert nicht nur Physik und Physis, sondern erweitert dieses ungleiche Paar noch um die Dimension der Psyche und des Bewusstseins.

Geht man noch weiter in der Literaturgeschichte zurück, stößt man auf James Joyce und dessen kryptisches Romanexperiment Ulysses, oder gar auf den Fünfbänder Gargantua und Pantagruel, verfasst von dem Arzt und Romancier François Rabelais, einem der ersten Erschaffer eines neuzeitlichen Fabelkosmos in Romanform - und das sinnfälligerweise bereits im 16. Jahrhundert, als der Roman als solcher noch nicht einmal als Genre definiert war.

Aber Alban Nikolai Herbst verwendet die literaturgeschichtlichen Vorbilder keineswegs als Blaupausen für das eigene Schaffen, sondern verfolgt darüber hinaus konsequent seine innovativen Konzepte: Er integriert ein zukünftiges Technoszenario, arbeitet mit simulierten Welten, Matrix-Verschnitten, Parallelwelten, entwickelt Zeitschleifen und choreografiert Roboterballette in allerbester Science-Fiction-Thriller-Manier. Diese Überrepräsentanz von Kybernetik und Cyberspace degradiert alle Romanfiguren letztendlich zu Infonauten, die durch das WWW geschleust werden oder durch sogenannte Lappenschleusen in andere Dimensionen oder Wahrnehmungswelten gelangen. Der geometrische Raum indessen schrumpft ein, reduziert den Planeten Erde auf eine einzige globale Stadt, in der Buenos Aires und Berlin tatsächlich eine Sphäre bilden. Womit ein virtuell-realer Kosmos entsteht, in dem der Begriff "virtuelle Realität" endgültig seine Ambivalenz eingebüßt hat.

Immer wieder geht dem Leser in dem Gewirr der sich überkreuzenden Welten die Orientierung verloren. Die Lektüre insbesondere von "Buenos Aires. Anderswelt" gestaltet sich wie Surfen im WWW, man wird ständig von einer Ebene in die nächste katapultiert, also zum Textwellenreiten genötigt. Hier mögen die Prinzipien des surrealistischen Schreibens angewandt worden sein.

Leser, die wirklich die Crux einer logisch nachvollziehbaren Story suchen und denen das Mäandern in Labyrinthen als müßige Tätigkeit erscheint, werden schnell kapitulieren. Mitunter wirken die Textstrukturen überbläht. Konfus, krebsartig wuchernd, nirgendwo endend. Doch gerade dann, wenn das Chaos die Oberhand gewonnen zu haben scheint, treten völlig neue Figuren in den Vordergrund. Wie aus dem Nichts konstituieren sich plötzlich Kurzgeschichten, entfalten eine eigene Handlungsdynamik und formen en miniature abgeschlossene Welten mit Parabelcharakter.

Herbstlektüre bedeutet ein stetes Ringen mit den Text, ja sogar mit der Kommunikation an sich. Wenn Webseiten in Romanen angegeben werden, wenn Schrifttypen und Schriftgrößen mutieren, Fotografien oder allenfalls webfähige Pics abgedruckt werden, dann wird deutlich, dass der Romancier den altgedienten Roman auf allerneuesten Stand bringen will: Galt das 19. Jahrhundert noch das Jahrhundert des Romans, das 20. Jahrhundert als das des Films, so prophezeien nicht wenige Kulturwissenschaftler für das 21. Jahrhundert die Dominanz des Computerspiels bzw. der crossmedialen Simulation. Herbst trägt diesen neuen Narrationen Rechnung und versucht, alle neuen Medien weiterhin zwischen zwei Buchdeckeln zu vereinen: Eine komplexe, mithin sogar explosive Buchstabenwelt entsteht.

Doch gelingt dieser Versuch immer? Dort, wo das Visuelle im Vordergrund steht, funktioniert die Narration, Herbsts filmischer Erzählduktus hat höchste Qualität, ist ungeheuer bildstark und voller Drive. Die Stakkato-Assoziationen hingegen sind gewöhnungsbedürftig. Man fühlt sich wie eine Ehefrau, der dem Göttergatten stundenlang beim fröhlichen Zappen zusehen muss. Hier ist Geduld gefragt, insbesondere, wenn die Anspielungen auf diverse antike Mythen diverser Kulturen von Tenochtitlan bis Athen Bezug nehmen, ohne hier weitere Erklärungen anzubieten.

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Für eine angenehme Form der Verwirrung hingegen sorgen einige "Erfindungen" dieser Anderswelt. Schönstes Beispiel hierfür sind die Holomorphen, Sklaven eines technischen Zeitalters, artifizielle Roboter, die allerdings nicht aus herkömmlicher Materie, sondern aus Informationseinheiten bestehen, ein digitales Fluidum also, das die Fähigkeit besitzt, menschliche Charakterzüge zu simulieren. Herbst öffnet hier die Perspektive einer Zukunftstechnik, stellt den menschlichen Protagonisten Mutanten zur Seite, lässt auch diese Kunstgeschöpfe ihre Wahrnehmungen ausschildern, und versetzt sich somit in eine andere kognitive Sphäre - was viel Balance verlangt, um weder naiv noch gehirnlastig zu wirken.

Und womit auch ein altes Genre in neuer Gestalt wiederbelebt wird. Im Stile der so beliebten Verkleidungskomödien, wo Frauen in Männerkleidern auftraten und umgekehrt, entsteht eine neue Sparte, die Filme wie Terminator oder Matrix bereits ansatzweise bedienten: Das Verwechslungsspiel Mensch/Roboter. Allerdings verzichtet Herbst auf die äußerst beliebte erotische Komponente - was allerdings nur konsequent ist, da sein kybernetischer Ansatz ohnehin jegliche Sexualität auf das Reiz-Reaktions-Muster reduziert, hier dominieren die Instinkte und Affekte des limbischen Systems, hier spult sich nur eine Programmierung ab, der sich alle Willenskräfte des Individuums unterwerfen müssen.

Was aber geschieht eigentlich in Buenos Aires. Anderswelt? Denken Sie am Besten an Per Anhalter durch die Galaxis, intellektuell aufgepeppt und sprachlich auf Hochliteraturniveau, und sämtliche Textseiten sind kurz vor der Drucklegung mit einem Zufallsgenerator oder der cut-and-paste-Methode noch einmal kunterbunt durcheinander gewürfelt worden. Eine Raffung oder Eindampfung des Inhalts ist nur schwer möglich, das Herbstsche Schreiben ist bereits Extrakt. Die wohl einfachste Formel wäre noch eine kybernetische: Das Bewusstsein der Romanhelden als auch der Leser wird uneingeschränkt dominiert vom allfältigen Reiz-Reaktions-Muster, es ist lediglich das ausführende Organ eines Schaltkreises, in dem alle "Intelligenz" integriert ist. Also: Das Input bestimmt das Output, und was im Inneren des Bewusstseins passiert, ist nichts anderes als eine "black box".

Dem neugierig gewordenen Herbstleser in spe sei zum Einstieg ein besonderes Kleinod empfohlen: Die Orgelpfeifen von Flandern. Auf den schlanken 70 Seiten der Novelle verwendet Herbst ein überschaubares Personal und verzichtet gänzlich auf technische Innovationen. Als einziges fantastisches Element benutzt er die Überlappung von Imagination und Realität: Traumfrau/Realfrau, Traumstadt Paris/Realstadt Paris. Und das reichlich. Mehr allerdings sei an dieser Stelle nicht verraten.

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Weitere Werke aus der umfangreichen Herbstkollektion sind unter anderem:

Wolperdinger oder Das Blau. 1993 (dtv) 1009 Seiten.
Thetis. Anderswelt. 1998 (Rowohlt) 894 Seiten.
Buenos Aires. Anderswelt. 2001 (Berlin Verlag) 272 Seiten.

09/2003 © by Lothar Glauch

Lothar Glauch auf der Marabout-Seite:

Christian Kracht: Auf der Suche nach der verlorenen Menschlichkeit (zu: 1979)

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