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Rezension: → J. M. Coetzee - Schande

Ein Roman des Abschiednehmens

J.M. Coetzees preisgekröntes Buch Schande

Von Manfred Loimeier (©)

Es ist ein sehr vielschichtiger Roman, für den der südafrikanische Schriftsteller J.M. Coetzee als erster Autor zum zweiten Mal den renommierten Booker Preis erhalten hat. Schande, wie das neue Buch des unlängst 60 Jahre alt gewordenen Coetzee heißt*, handelt vom Ende einer Universitätskarriere, von Vergewaltigung, dem Leben in Stadt und Land, dem Älterwerden, der künstlerischen Inspiration und vor allem vom Einzug eines neuen Lebensgefühls in der Republik Südafrika nach dem Ende der Apartheidregierung. Vergewaltigung ist zurzeit eines der häufigsten Delikte in dem Land am Kap der Guten Hoffnung. Von den südafrikanischen Frauen, die unabhängig von ihrer Hautfarbe gleichermaßen bedroht sind, denken vor allem die weißen Frauen daran, Südafrika zu verlassen.

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Da Coetzee in seinem preisgekrönten Werk die Verarbeitung einer Vergewaltigung thematisiert, ist Schande ein überaus aktueller politischer Roman. David Lurie, Anfang 50, Professor für Kommunikationswissenschaft, nutzt seine Autorität aus, um mit Studentinnen sexuell "in Form zu bleiben", wie Lurie es nennt. Auch die junge Melanie geht widerstrebend, aber doch auf Luries Avancen ein. Dass Lurie nach einem Disziplinarverfahren die Universität verlassen muss, hat aber vor allem mit seiner Starrköpfigkeit vor einem Untersuchungsausschuss und mit dem medienwirksamen Auftritt von Melanies beleidigtem Freund zu tun. Lurie findet Unterschlupf bei seiner Tochter Lucy, die als Überbleibsel einer Land-WG eine abgelegene Farm bewirtschaftet - mit Hilfe eines schwarzen Bauern, der nach und nach von Lucys Feldern und Leben Besitz ergreift.

Als Lucy vergewaltigt wird, plädiert Lurie dafür, zumindest für längere Zeit das Land zu verlassen. Lucy aber arrangiert sich mit dem Vorfall und einer daraus resultierenden Schwangerschaft. Vielleicht ist "das nun der Preis, den man dafür zahlen muss, bleiben zu dürfen", überlegt Lucy, und damit erhält ihr privates Schicksal eine allgemeingültige Dimension: Nach welchen Regeln verläuft die Machtübergabe zwischen Schwarz und Weiß in Südafrika?

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Coetzee ist bekannt dafür, die Fragen, die er in seinen Romanen aufwirft und erörtert, nicht abschließend zu beantworten. Entsprechend spielt er sich nicht zum moralischen Richter auf und entscheidet, wer denn nun besser sei: der Professor, der sich auf Grund seiner hierarchischen Stellung der Frauen bedient, oder die Männer vom Land, die roher vorgehen. Was ist unverständlicher, verwerflicher?: Luries Ausnutzung des Autoritätsverhältnisses und die sensible Reaktion der großstädtischen Intellektuellen oder die brutale Vergewaltigung und Lucys pragmatischer Umgang damit? Coetzee wägt nicht ab, welcher Bestrafungs- und Entschädigungsmodus der angemessene sein könnte: die unehrenhafte Entlassung und die gesellschaftliche Ächtung Luries oder die Heirat, die Lucy vom Angehörigen ihres Peinigers angeboten wird, um Lucy vor gesellschaftlicher Isolation zu schützen.

In diese Aspekte mischt Coetzee Luries Überlegungen eines alternden Mannes, der die Beziehung zu seiner Tochter Revue passieren lässt und zugleich eine Bilanz seiner Arbeit zieht. Luries Resümee liest sich als hochprozentiges Konzentrat aus Lebenserfahrung und Leiden, aus dem heraus - Lurie beginnt, eine Oper zu entwerfen - Kunst entstehen könnte. Insofern reflektiert Schande auch über den Ursprung der Ästhetik in der Qual. Dass Coetzee dabei auch sich selbst im Blick hat, wird aus Sätzen ersichtlich, in denen der Erzähler darüber sinniert, wann die englische Sprache nicht mehr ausreicht, um das Leben in  Südafrika zu schildern - Coetzee ist mit Englisch ebenso aufgewachsen wie mit Afrikaans. Dass die Möglichkeiten der englischen Sprache bisweilen erschöpft scheinen, verdeutlichen zudem Coetzees originalsprachliche Einschübe in Italienisch oder Französisch, wenn es um Leidenschaft und Liebe geht.

Das Bedeutende an Schande ist indes vor allem, dass es ein Roman des Abschiednehmens ist. Des Abschieds von bislang gültigen Moralvorstellungen, von entkräfteten politischen Strukturen, von persönlichen Überzeugungen. Damit dokumentiert das Buch den unsicheren Neubeginn in Südafrika und die Zweifelhaftigkeit in der Bewertung von Fragen, auf die es nach den gewohnten Regeln keine Antwort gibt, auf die es aber, vielleicht, eine Antwort wird geben müssen.

J.M. Coetzee: Schande. Deutsch von Reinhild Böhnke. S. Fischer, Frankfurt/M. 2000, 288 Seiten, EUR 19,00.

(Originaltitel: Disgrace)

* verfasst 2000, für die Marabout-Seite übernommen 12/2003
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