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Sansal, 2084
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Rezension: → Boualem Sansal - 2084 - Das Ende der Welt

Hypnotisch teuflisch Neusprech II

Wie der Leser richtig vermutet, nimmt Boualem Sansal bereits im Titel seines in deutscher Übersetzung kürzlich erschienenen Romans 2084 Das Ende der Welt (kurz: 2084) Bezug auf den Orwell-Roman 1984. Dann, in einem der Geschichte voran­gestellten Hinweis, warnt er den Leser. Er möge sich davor hüten, diese für wahr zu halten. Es gäbe keinen Grund dafür zu glauben, dass eine Welt wie die darin beschriebene in Zukunft existieren werde, "so wenig wie die von Meister Orwell vorgestellte Welt des Big Brother ..." Es bedarf wenig Phantasie, gerade wegen dieses Hinweises, eine Mahnung herauszulesen, die auf gefährliche Tendenzen in der realen Gegenwart verweist.

Weitere Parallelen zwischen beiden Werken ließen sich anführen. Eines der hervor­stechendsten Merkmale besteht in der Entwicklung einer fiktiven Sprache, hier wie da Neusprech genannt, wobei im vorliegenden Roman mit Abilang die Bezeichnung konkretisiert wird. Den beiden Neusprechs gemeinsam ist die prägnant-knappe Ausdrucks­weise. In 2084 wird zudem für ihre Einführung eine religiöse Begründung mitgeliefert: Erhabenheit, Würde und Über­legenheit der neuen Religion, in deren Zentrum Yölah der alleinige Gott und sein Entsandter Abi stehen, dürften nicht mit einer über­kommenen Sprache beschmutzt werden. Und was hat die Sprache Abilang sonst zu bieten? Hypnotische Macht wird ihr ebenso zugeschrieben wie teuflischer Charme, durchaus zweck­dienliche Herrschafts­instrumente. Ihre Ausdrucks­möglich­keiten jedoch sind begrenzt, ihre Wörter mehr­heitlich einsilbig, wie der Name des Propheten: Abi, des Prota­gonisten: Ati, seines Freundes: Koa usw. usf; nicht einsilbig ist der allmächtige Gott Yölah, dessen Worte im Gkakul verzeichnet sind, sodass sie in der Mockba den Gläubigen verkündet werden können. Der ernste Hinter­grund hindert den vielfach geehrten algerischen Autor nicht daran, seine Geschichte mit viel Humor zu erzählen.

Damit sind zwei gewichtige Unter­schiede zwischen 1984 und 2084 aufgezeigt. Während in 1984 von den Auswüchsen in einer säkularen Diktatur die Rede ist, handelt es sich beim Reich Abistan um einen Gottes­staat, dessen Bezüge zum Islam unverkennbar sind. Zwar greifen in beiden Romanen autokratische Verhaltens­regeln bis weit ins Persönliche hinein. Jedoch werden die religiös fundierten Instruktionen trans­zendiert und greifen unmittelbar nach der Seele; ein Umstand, der ablenkt von den Macht­habern, an deren Spitze der noch unter den Gläubigen weilende Entsandte Abi thront und gemeinsam mit dem Rat der Gerechten Brüder­lichkeit die Geschicke der – wie im Verlaufe der Erzählung immer deutlicher wird – überwiegend naiven Bevölkerung leitet.

Überzeichnete Ausgestaltung kennzeichnet beide dystopische Werke. Doch während Orwell die düstere Zukunft in entsprechenden Farben malt, setzt Sansal zunehmend auf humorigen Ton. Fast gerät ihm die Negativ­vision zur Satire. Und dieses Land, dieses Abistan, das, in sechzig Provinzen eingeteilt, fast die gesamte Welt umspannt, könnte ebenso gut Absurdistan heißen.

Doch zu detailliert und klug sind jene Fallstricke beschrieben, denen die Abistani ausgesetzt sind. Sie reichen von nachvoll­ziehbaren gesell­schaftlichen und religiösen Geboten bis hin zu absurden Verboten und drakonischen Maßnahmen. Ein ausgefeiltes Bestrafungs- und Belohnungs­system verhindert das Aufkommen individueller Bedürfnisse und Begehrlich­keiten. Alles fiebert dem Tabelo entgegen, dem Tag der Belohnung. Dafür übernehmen die Bewohner mit einem Lächeln oder einem Zähne­knirschen ehren­amtliche Dienste oder denunzieren Nachbarn und Freunde.

Boualem Sansal entwirft eine Welt, deren Plausiblität sich aus einem dichten Beziehungsgeflecht im Gegen­ständlichen und im Symbolischen erklärt und die sich trotz moderner Errungen­schaften märchen­haften orientalischen Vorstellungen nicht verstellt. Spricht er von Karawanen, so verschwinden LKW’s hinter Maul­tieren, redet er von Herrscher­cliquen, so nennt er diese Klans, Reisende heißen Nomaden und sind Monate unterwegs oder Jahre.

Vor diesem Hinter­grund lässt Boualem Sansal der Entfaltung der Handlung sehr viel Zeit. Nur selten setzt er Dialoge ein, der Ton ist gelassen, die Stimme aus dem Off zum Film, der Leser hört mit Lust zu. Drastische Formulierungen, die das deskriptive Timbre immer wieder durchbrechen, stören nicht, kitzeln eher Höchst­genuss heraus.

Im Mittel­punkt der Geschichte steht Ati, nicht zu verwechseln mit dem göttlichen Entsandten Abi. Seit längerer Zeit verharrt er mit einem Lungen­leiden in einem Sanatorium, ehemals eine viel umkämpfte Festung. Die bissig-kalte Bergluft scheint zu seiner Genesung mehr beizutragen als die karge medizinische Betreuung. Ati hat viel Zeit und Muße nicht nur seine unmittelbare Umgebung mit kritischem Blick zu beobachten, sondern auch die Gesellschaft allgemein zu durch­leuchten. Deren teils irrwitzigen Regularien sind die Sanatoriums­insassen nicht unmittelbar ausgesetzt, die Distanz befördert kritische Töne. Und irgend­wann hört er dieses eine Wort, das er selbst nicht zu denken wagt. Hautnah beschreibt Sansal wie sich Ati von inneren Fesseln zu lösen versucht, wie es ihn ihm gärt, wie es ihn hin und her reißt zwischen Vorschriften und dem Drang nach freiem Raum, zwischen Freiheits­drang und Seelen­heil und wie er schließlich in einsamer Nacht dieses eine Wort hervor­stößt: Frei...heit.

Dann, als geheilt entlassen, macht er sich auf den nicht enden wollenden Weg, schließt sich Karawanen an. Unterwegs trifft er auf den Archäologen Nas, der ihm von einer sonderbaren Ausgrabungs­stätte berichtet, einem von allen verlassenen Dorf ohne Spuren von menschlichen Gebeinen, jedoch Funden, "die die symbolischen Grund­lagen von Abistan selbst revolu­tionieren könnten."

Ein Jahr dauert es bis zu Atis Ankunft im heimatlichen Stadtteil von Qodsabad, der Hauptstadt des Reiches. Er wird freundlich empfangen. Nach einer kurzen Zeit der Anpassung folgt erneute Unruhe. Einmal gesäter Zweifel wächst und gedeiht, zumal er emotionale Schützen­hilfe erhält. "Ati", heißt es an dieser Stelle, "verabscheute das System" und sein Freund Koa "die Menschen, die ihm dienten". Die innere Unruhe macht die Beiden umtriebig. Sie entschließen sich, in eines der berüchtigten und geächteten Ghettos einzudringen, das, bewacht und von hohen Mauern abgeschottet, doch – über den Schwarz­handel – durchlässig ist. Hier herrscht eine ganz andere Stimmung. Es gibt keine Kontrollen in den Straßen, man kann einander ohne Miss­trauen ansprechen, man kann sogar seinen Burni ablegen. Alles in allem viele Frei­heiten, die den Beiden bisher fremd geblieben sind. Anderer­seits munkelt man, die Ghettos seien eine Einrichtung des Systems und dienen in Wahr­heit der Kontrolle. Und nicht nur der Ungläubigen, der Renegaten, sondern gerade auch der Gläubigen. Wie könnte es sonst sein, dass der allmächtige Apparat vor den Toren seiner Haupt­stadt so etwas duldet?

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GEORGE ORWELL
1984

Zurück in der Welt der Gläubigen haben sie sich anderen Heraus­forderungen zu stellen. Koa, immerhin der Enkel des ehrfurchts­gebietenden Mockbi Kho, wird erwählt, als Ankläger bei einem der gefürchteten Schau­prozesse zu fungieren; eine Ehre, die er kaum ablehnen kann. Die Beiden entschließen sich zur Flucht, um bei dem berühmten Archäologen Nas Rat zu suchen.

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Spätestens hier nimmt der Roman an Fahrt auf, der Leser wird näher an die Haupt­figuren herangeführt, Spannung begleitet ihren Weg. Sie gelangen in tage­langen Märschen ans andere Ende der Hauptstadt. Als sie bei allgegen­wärtigen Kontrollen auffallen, gewährt ihnen ein gewisser Toz ganz in der Nähe einer majestätisch aufragenden Pyramide, der Kiiba, dem religiösen Zentrum, Unter­schlupf. Hier stoßen sie auf merkwürdige Dinge wie Bücher in fremden Sprachen, auf Gegen­stände, die dieser absonderliche Zeit­genosse Tisch und Stühle nennt und im Alltag benutzt. Er erzählt von seiner Faszination für eine entfernte Zeit mit Namen 20. Jahr­hundert, mit dessen Relikten er sein Haus bestückt und eine Art Museum.

Die Beiden staunen und verstehen nichts. So versucht Toz ihnen ein Bewusst­sein von Chrono­logie, von Geschichte einzuflößen. Irgendwie sei die Zeit beim Jahr 2084 stehen geblieben. Und so sehr er sich auch angestrengt habe, zu einem Jahr 2083 habe er nicht vordringen können. Bis es ihm nach vielen Mühen gelungen sei, die Zeit­schranke zu durch­brechen und Wunder über Wunder an Viel­falt zu entdecken.

Die beiden Freunde beginnen zu verstehen und stellen sich Fragen. Weshalb hat dieser seltsame Mensch mit Verbin­dungen nach ganz oben sie aufgenommen? Warum werden sie auf der Straße trotzdem gejagt und voneinander getrennt? Weshalb haben sie diese Reise ans Ende der Welt über­haupt angetreten?

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Hypnotisch teuflisch Neusprech II

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Boualem Sansal hat mit 2084 Das Ende der Welt einen großartigen Roman geschrieben, der im französischen Original – 2084 La fin du monde – bereits im Erscheinungsjahr 2015 mit dem Grand prix du roman de l'Académie française ausgezeichnet wurde; ein politisches Werk und ein Werk über die Schönheit der Sprache, das uns eindringlich warnt vor einem Ende der Geschichtlichkeit und einer Abilangisierung der Sprache.

06/2016 © by Janko Kozmus

1) Im Roman 2084 verbreiten die V's, eine Art unsichtbare Supereingreiftruppe mit telepathischen Fähigkeiten Angst und Schrecken oder sind es nur paranoide Hirngespinste?

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