James Wood schreibt im britischen Guardian über
John
M. Coetzees Roman Disgrace (dt: Schande)
"der perfekt ist, so weit er zu gehen bereit ist".
Mit
dem großen Erfolg von Leben
und Zeit des Michael K. sei klar geworden,
dass der Südafrikaner Coetzee einer der herausragendsten
Romanciers englischer Sprache ist, aber ebenso klar geworden
sei, dass er noch kein großer Romancier ist. "Er ist
höchst intelligent, luzide, präzise und elegant,
aber sein Talent wird noch behutsam geführt" ... Anders
als Dostojewski, so James Wood, betrete er kein unbekanntes
Terrain.
Sein
neuer Roman könnte kaum besser sein, meint Wood, er liest
sich, als wolle der Autor in einer Prüfung das perfekte
Beispiel eines sehr guten Gegenwartsromans vorweisen. Der
Roman sei spannend, äußerst bewundernswert und
... in seiner Art wohlüberlegt ... eine nahezu vollendete
Prosa in ihrer bleichen Perfektion ... Als Bestätigung
seiner Einschätzung zitiert Wood: "Er ist stattlich und
drahtig, er trägt Spitzbart und Ohrring, schwarze Lederjacke
und schwarze Lederhosen. Er sieht älter aus als die meisten
Studenten, er sieht nach Ärger aus." In dieser Form taxiere
David Lurie, der Protagonist, Petrus, einen schwarzen Farmer.
"Petrus putzt die Schuhe ab, sie schütteln die Hände.
Ein faltiges, wettergegerbtes Gesicht, kluge Augen. Vierzig,
fünfundvierzig?" Diese Sprache ist nie ineffizient, stellt
Wood fest, weil sie selbst den Rahmen ihrer Effizienz begrenzt.
Die Wirkung eines solchen Schreibens ... sei die Aufhebung
dessen, was es beschreibt ...
Der
Rezensent vermutet, der Protagonist sei möglicherweise
nachdenklicher als sein Autor ihm zugestehe: Ein ironischer,
verbitterter, mittelalter Professor an der Technischen Universität
von Kapstadt, der eine Schwäche für romantische
Dichter und die promiskuitive Liebe habe. Nach einer Affäre
mit einer Studentin wird er der Vergewaltigung beschuldigt,
beschreibt Woods den Inhalt des Romans, und obwohl sein Job
nicht zwingend auf dem Spiel stehe, lässt er dessen Verlust
zu. Sich in die Schande fügend und von einer düsteren
Laune der Buße ergriffen, besucht er seine auf einer
kleinen Farm, allein lebende Tochter. Einfach sei ihre Beziehung
nie gewesen, werde aber noch schwieriger nach einem brutalen
Angriff auf die Farm der weißen Südafrikaner, bei
der die Tochter Lucy von drei schwarzen Eindringlingen vergewaltigt
wird.
Wood
beschreibt die durch den Zwischenfall größer werdende
Distanz zwischen Vater und Tochter ... die sich vor allem
in der ideologischen Bewertung des Vorgefallenen ausdrücke.
"Lucy weigert sich die Farm zu verlassen, und in der Tat scheint
sie sich das Ventil einer Aburteilung oder zumindest eines
gewöhnlichen Gerechtigkeitsgefühls zu verweigern.
Sie scheint zu glauben, was ihr geschehen ist, sei der Preis,
den weiße Frauen dafür zu bezahlen hätten,
dass sie alleine auf dem Lande lebten neben schwarzen Südafrikanern".
Stillschweigend glaube sie, mit ihrem Martyrium eine Art Ausgleich
schaffen zu können für die Jahrzehnte der Apartheid.
Die
unleugbare Kraft dieses Romans, so Wood, liege in seiner Fähigkeit
zur Analyse der beiden unterschiedlichen Formen der Schande
sowie der Buße. Während Davids Umgang mit der Schande
persönlicher Art sei, müsse die von Lucy als politisch
betrachtet werden. Letztere bestrafe sich selbst, indem sie
auf der Farm bleibe, und begrüße diese eigenartige
Form von politischer Buße auch noch. Wood zitiert Lucys
Aussage, die ihrem Vater sagt, es sei erniedrigend auf der
Farm zu bleiben, "aber vielleicht ist es ein guter Punkt neu
anzufangen. Vielleicht ist es das, was ich zu akzeptieren
lernen muss ..."
"Des
Lesers einzige Frustration mit diesem bewegend düsteren,
eindrucksvoll verschwenderischen Buch mag sein, dass es seine
eigenen Grenzen so peinlich sauber hält. Es bestimmt",
so Wood, "seine eigenen Grenzen, innerhalb derer es lebt ...
→
Coetzees neuer
Roman ist absolut herausragend, aber vielleicht nicht absolut
unentbehrlich." ·
(Guardian,
ÜEK:
J.K.)
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