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GAVRON: HYDROMANIA
Rezension: Assaf Gavron - Hydromania

Die Ströme der Macht

Assaf Gavron, der Autor, Übersetzer, Sänger und Songwriter der israelischen Kultband The Mouth and Foot lässt seinen Roman Hydromania im Jahre 2067 spielen, 99 Jahre nach seiner Geburt und hundert Jahre nach dem Sechstagekrieg, nach dessen Ende Israel den Gazastreifen, die Golanhöhen, das Westjordanland, Ostjerusalem und die Sinai-Halbinsel kontrollierte. Ganz anders sieht Gavrons Zukunftsprojektion aus: Israel ist von den Palästinensern auf eine kleine Enklave am Mittelmeer mit der Hauptstadt Cäsara zurückgedrängt.

Politisch wird die Welt von den neuen Supermächten China, Japan und der Ukraine dominiert. Die wahre Herrschaft in der von Dürre und Wassernot gebeutelten Zeit obliegt jedoch den neuen Ökonomieriesen, den Wasserkonzernen. Sie kontrollieren nicht nur die bestehenden, sondern auch die zukünftigen Wasservorräte, die Regenfälle selbst. Ein Zustand, der für den Wasseringenieur Ido, den Ehemann der Protagonistin Maja, inakzeptabel ist. Mit seiner Erfindung, der Dschi-Dschi-Anlage, mit welcher auch der kleine Mann das Regenwasser filtern und somit die Abhängigkeit von den Konzernen abschwächen kann, will er dagegen vorgehen.

Nach Idos Verschwinden steht Maja alleine da. Sie tut, was sie kann, um ihr gemeinsames Projekt, das Filtern und den Verkauf von Wasser, voranzutreiben. Doch als die Prognosen den nächsten Wassersegen um drei Monate nach hinten verschieben, sieht sie sich vor dem Ende. Eindringlich beschreibt Assaf Gavron den Umgang mit der Wassernot, wie Maja allmorgendlich jeden Tank entriegelt und kontrolliert, obschon sie doch genau weiß, dass über Nacht kein Tropfen Regen gefallen war und folglich alle Tanks bis auf einen leer sein müssen, wie sie dann langsam, Schluck für Schluck trinkt. „Es gelingt ihr, jedes Mal mit weniger Schmerz zu schlucken, indem sie die Flüssigkeit im Mundraum behält, alle Ecken und die Zwischenräume der Zähne befeuchtet, bevor sie das dünne Rinnsal zuletzt die Kehle hinunterlaufen lässt.“ In dieser Situation lässt sie sich von Dagi helfen, einem gemeinsamen Freund der Eheleute. Erst in späteren Rückblicken erfährt der Leser, wie sie mit Dagi bekannt wurde. Jedenfalls ist Ido verschwunden und Dagi nur allzu bereit, der etwas älteren, aber attraktiven Maja zur Seite zu stehen. Seine Hilfe besteht darin, ihr die Implantierung eines Chips zu vermitteln. Der Chip, den inzwischen ein jeder trägt, bildet das Herz eines Kommunikationssystems, dem als Interface eine Brille dient. Mit einem Touch auf den Arm wird er aktiviert und hilft dem Träger in allen Lebenslagen, ob es sich dabei um den öffentlichen oder Bankverkehr handelt, die Navigation oder die Umgestaltung der Haarfrisur; einziger Nachteil, Verhalten und Standort des Trägers sind für die allwärtig präsente Konsumgesellschaft, aber auch für Administration und Exekutive jederzeit ermittelbar.

Der Autor Assaf Gavron verkneift sich eine explizite Kritik, an jeder Stelle seines Romans wird jedoch deutlich, bei der beschriebenen Gesellschaft handelt es sich für den einen, den ökonomisch potenten Teil, um ein Konsumparadies, erkauft um den Preis der Big-Brother-Überwachung, für den anderen bleibt lediglich die lückenlose Kontrolle. Aber natürlich begrüßt vor allem die Jugend die jeweils neueste Chip-Generation mit stets weiter gehenden Möglichkeiten und den immer noch cooleren Interface-Brillen. Repräsentiert wird die Jugend in diesem Buch durch Lulu, Majas Nichte. Sie lebt in einem Dorf und kommt ausgerechnet an jenem Tag für einen Konzert- und Verwandschaftsbesuch in die Stadt Cäsara, als ihre Tante mit dem Gesetz in Konflikt gerät.

Der Maja neu implantierte Chip stammt von einem Toten namens Ewig und die Polizei ist äußerst interessiert an den Umständen, die zu dessen Tod beitrugen. Die Spur führt so deutlich zu der Trägerin des Chips des mutmaßlich Ermordeten, dass sich der Leser fragt, wie Maja so naiv sein kann, sich diesen Chip, der ein großes, für den Träger abrufbares Bankguthaben beinhaltet, implantieren zu lassen. Ein Teil der Erklärung mag in der Tatsache liegen, dass Maja schwanger ist und sich doppelt allein gelassen fühlt. Auf der anderen Seite fragt sich der Leser, warum Dagi, der Schwarzhändler, diesen wertvollen Chip nicht selbst behält? Ist seine Freundschaft zu Maja tatsächlich so uneigennützig? Ganz allmählich entwickelt sich eine Kriminalgeschichte, in deren Mittelpunkt, das wird schnell deutlich, Interessen stehen, die mit der Wasserknappheit enormen Profit einfahren.

Während Majas gegenwärtiges Schicksal detailliert ausgebreitet wird, erfährt der Leser in regelmäßigen Rückblenden, wie sie und Ido einander, wie sie Dagi, einen Freund von Idos Bruder Tschio kennen gelernt haben, hört von Idos Werdegang als Ingenieur und vom gemeinsamen Aufbau ihres kleinen Wasserunternehmens und schließlich von Idos Verschwinden.

Nachdem Maja der Chip des Ermordeten zwangsweise entfernt und ihr alter, weniger luxuriös ausgestatteter Chip wieder eingesetzt wurde, erfährt die Romanhandlung eine Zäsur. Die Protagonistin wird, vor allem auf Betreiben eines jüngeren Beamten, eines gewissen Agami, zunächst aus der Obhut der Polizei entlassen und besinnt sich auf sich selbst, auf ihre gegenwärtige Lage. Sie muss jetzt ausschließlich für „Erbse“ dasein, so nennt sie das ungeborene Wesen in ihrem Leib. Mit der Erlaubnis, Cäsara zu verlassen, sucht sie Zuflucht bei ihrem Bruder und ihrer Nichte Lulu, die in einer Hundert-Seelen-Gemeinde leben. Hier wird sie die von ihrem Ehemann entwickelte Wasseraufbereitungsanlage aufzubauen versuchen. Ein Unterfangen, das den Dorfbewohnern helfen könnte, die Abhängigkeit von den Wasserlieferungen aufzuheben oder zumindest einzuschränken. Jedoch glauben viele, allen voran ein gewisser Esched, nicht an ihre selbstlosen Absichten, fürchten vielmehr, sie wolle sich mit ihrer tatkräftigen Hilfe nur profilieren, um sie im entscheidenden Moment im Stich zu lassen und Profit aus der Dschi-Dschi-Filteranlage zu schlagen. Sie versuchen, wo immer sie können, ihr Vorhaben zu torpedieren und schaffen es schon auch, die unter Zeitdruck hart arbeitenden Dörfler und Maja selbst, die mit der fortlaufenden Schwangerschaft immer weniger Energie aufbringen kann, zu demoralisieren. Die Anlage muss vor Beginn der angekündigten Regenfälle fertig gestellt sein, was immer fraglicher wird.

Ein spannendes Kapitel, mit dem der Roman, insbesondere durch die hier beginnenden, kursiv gesetzten Einschübe eine Bereicherung erfährt, die gleichzeitig einer – wenngleich fiktiven - Historisierung und Individualisierung des Rahmens, in die die Kriminalgeschichte eingebettet ist, gleichkommt. Bald wird klar, wer der Verfasser dieser Einschübe ist: Niemand sonst als das Alter Ego des Autors selbst. Im Roman heißt die Figur Assafdschi und ist ein 99-jähriger Dörfler und Charmeur, ein Dichter, der den Leser an seinem Vorhaben, jeden Tag ein Gedicht zu verfassen, teilhaben lässt, ein Beobachter, fast ein Chronist und gleichzeitig ein Don Quichotte, dem die Spitze seiner Lächerlichkeit genommen ist, da er über sich selbst zu grinsen scheint. In seiner Rolle als Romanfigur stellt Assafdschi eine sympathische Randerscheinung dar, seine Funktion geht weit darüber hinaus. Seine Erinnerungen verleihen der futuristischen Fiktion jene Glaubhaftigkeit, die den Roman Hydromania davor bewahrt, zu der Anmaßung einer prophetischen Gebärde zu verkommen; ähnliches leisten seine literarischen Ergüsse, in denen zeitweise der Songwriter Assaf Gavron aufblitzt:
Ich segelte zu
den Strömen des Amazonas und der Macht
Jetzt
segeln sie zu mir
wutschäumend ins Gehirn – gedacht
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Die Geschichte hat nun Fahrt aufgenommen, der Alte ist verliebt, in Maja natürlich. Die vermisst schmerzlich ihren Ido und durchlebt eine kurze, äußerst erotische Phase mit Agami. Gleichzeitig dringt der Leser in Begleitung von Ido tiefer und tiefer in das Wesen der Macht ein, erfährt, wie weit zu gehen diese bereit ist, erkennt ihre Grenzen und ihre Grenzenlosigkeit. Und am Ende sprüht und sprudelt es vor Überraschungen, die allerdings betreffen allein das Handeln der Romanfiguren in ihrer vorgefundenen Welt, in der der Autor Assaf Gavron seiner Heimat wenig Raum zur Entfaltung lässt, Erweiterung erfährt sie allenfalls im virtuellen Netz.

(Originaltitel: »Hydromania«)

09/2009 © by Janko Kozmus

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