DIE MARABOUT-SEITE
Linie

Linie
Linie
ATWOOD: ORYX UND CRAKE

Rezension: → Margaret Atwood - Oryx und Crake

Schneemensch und Jimmy gegen den Rest der Welt

Regelrechte Städte bildende, riesige Konzerne stellen die Zentren der Macht dar. Sie sind abgeschottet und den Privilegierten vorbehalten. Das jeweilige Herzstück dieser über die Welt verteilten Inseln des Wohlstands ist das Genlaboratorium. Idealer Hintergrund für den genialen Wissenschaftler, der überzeugt ist, die Übel der Welt erkannt zu haben und Abhilfe schaffen zu können. Die Zukunft ist angebrochen: Überbevölkerung, Rohstoffmangel und Umweltzerstörung machen ein Zusammenleben zunehmend unerträglich. Froh sein darf, wer nicht in Plebsland, sondern im privilegierten Umfeld groß wird. Kraft eigenen Leistungsvermögens sich eine Eintrittskarte in dieses zu erarbeiten, das gelingt nur wenigen. Es handele sich eher um spekulative Fiktion als um Science Fiction, sagt Margaret Atwood in einem Interview zu ihrem neuen Buch Oryx und Crake, keine angeführte Entwicklung, die nicht schon in unserer Welt ihren Anfang genommen hätte. Gegenwärtiges habe sie lediglich fortgeführt, in die Zukunft projiziert, demzufolge eine Extrapolation. Selbst die Einlösung dieses Anspruchs ließe Zweifel an der Legitimation einer Geschichte zu, deren Grobmaschen schon oft gestrickt worden sind.

Für Crakes Kinder ist Schneemensch eine Art Gott, zumindest ein Übermensch - ohne dass sie je von Nietzsche gehört hätten - und das trotz seiner offensichtlichen körperlichen Mängel, seiner beiden Häute, seiner morbiden Konstitution, seiner abstoßenden Gier nach tierischen Proteinen. Alles Dinge, die Crakes Kinder weder besitzen noch begehren. Pflanzliche Proteine bescheren ihnen volle Leistungsfähigkeit. Bedarf an tierischem Eiweiß besteht ebenso wenig wie an einer zweiten Haut; sie kennen weder Scham, noch Eifersucht oder Monogamie. Periodisch werden sie brünstig. Eine Weibliche duckt sich dann mit vier Männlichen in den Busch, wo sie frei von psychischem Ballast ihren Trieb ausleben. Währenddessen feiert fröhlich der Rest der Gruppe. Ausgelassenheit aber scheint in Crakes genetischem Programm nicht vorgesehen gewesen zu sein, ebenso wenig wie Eifersucht.

ORYX UND CRAKE als Taschenbuch bei amazon bestellen
broschierte Ausgabe
bei amazon!

Schneemensch besucht sporadisch Crakes Kinder, die dank beschleunigten Wachstums selbst schon Kinder haben. Ewig und ohne Genuss in Adoleszenz verharrend, überhäufen sie ihren Übervater mit Fragen. Und der weiß immer eine Antwort. Bei seinen ad hoc selbst gestrickten Mythen sollte er behutsam vorgehen. In der nächsten Fragestunde darf er sich auf keinen Fall in Widersprüche verstricken. Denn aus praktischer Unterweisung kann schnell ein Überbau erwachsen. Darum hat sich früher Oryx im Auftrag von Crake gekümmert. Jetzt ist es seine Aufgabe, der er mit widerstrebenden Gefühlen nachgeht.

Verlässt Schneemensch Crakes Kinder, ist er einfach nur wieder Jimmy, ein sehr einsamer Jimmy. Außer Crakes Kindern, einer überschaubaren, an die gestrandeten Kinder aus William Goldings Herr der Fliegen erinnernden Gruppe, scheinen keine weiteren Menschen zu existieren. Zur Aggression neigende Organschweine - einzige übersetzerische Sauerei der ansonsten kongenialen Übertragung -, und anderes Kunstgetier machen die Umgebung unsicher. Jimmys anfängliche Versuche, Überlebende ausfindig zu machen und das spätere, an Leichenfledderei erinnernde Stöbern in den Wohnungen der Toten gehört zu den schönsten Stellen des Romans. Momente der fühlbaren Einsamkeit dieses vielleicht letzten Vertreters seiner Gattung. Diese Absätze erinnern an die vollendete Stimmigkeit, an die atmosphärische Dichte des wenig bekannten, von der Auflösung der Menschheit berichtenden Romans Dissipatio humani generis oder Die Einsamkeit des Italieners Guido Morselli. Ja, auch hier, in der Welt von Oryx und Crake, das ahnt der Leser längst, hat er es mit einer Katastrophe zu tun.

Während Jimmy seine aufs Überleben reduzierten Bedürfnisse zu befriedigen versucht, reflektiert er die Geschehnisse, die zu diesem Dasein, seiner Funktion als Mythenstifter und Welterklärer geführt haben. Sein psychisches Überleben garantieren ihm die schon pathologisch anmutenden Dialoge mit den omnipräsenten Oryx und Crake. Letzteren kennt er seit der Kindheit. Crake hat im Gegensatz zu ihm geistige Kapazitäten aufzuweisen, die gemeinhin als genial bezeichnet werden. Gleichwohl verstehen beide sich ausgezeichnet. Eine gemeinsame Perspektive zur Welt verbindet sie, eine Sicht, die von unserer Warte sonderbar emotionslos und von Zynismus durchsetzt zu sein scheint, in ihre eigene passt sie sich nahtlos und reibungsfrei ein.

Download
RTF-Datei
Schneemensch und ...
PDF-Datei

Vieles von dem, was uns heute noch normal und selbstverständlich erscheint, ist Crake und Jimmy schon fremd oder verloren gegangen. Was sie an Welt vorfinden, ist selektiert und segmentiert, aufgeteilt und vorgekaut, kurz: lebensunwert. Ihre Welt spielt sich im Wesentlichen virtuell ab. Kaum noch ein Unterschied, ob sie ein Spiel wie Extinctathon - aufbauend auf dem Aussterben der Arten - spielen oder sie bei realen Morden zusehen. Irgendwann geschieht etwas, das beiden den Wunsch eingibt, ihre idiosynkratische Haltung gegenüber der realen Welt aufzugeben und Kontakt aufzunehmen. Oryx blickt sie an, das zu garstigen Spielen gezwungene kleine Mädchen. Und dieser Blick verzaubert beide. Jimmy äußert den Wunsch, jenes Mädchen kennen lernen zu wollen. Crake artikuliert Gleichartiges nicht, er handelt. Jahre später. Da ist er schon einer der Elitejungs an einer der Eliteuniversitäten. Jimmy muss sich mit Mittelmaß begnügen, in jeder Hinsicht. Seine persönlichen Leistungen erlauben keine Aufnahme in die Exklusivität. Später wird klar: Diese beiden so unterschiedlichen Typen haben sich in Oryx verliebt.

Jimmy liebt die Sprache, semantische Spielereien, sprachliche Neuschöpfungen, das Zergehenlassen auf der Zunge von Begriffen wie Aphasie, Synästhesie. Seine berufliche Stellung als Werbetexter in Genlaboratorien bedeutet Erfüllung und Begrenzung seiner Liebe zur Sprache. Wortneuschöpfungen wie Hunölfe oder Wakunk könnten aus seiner Feder stammen oder tun es tatsächlich. Begriffe, so fremd wie ihre stofflichen Äquivalente, die von Gentechnikern in Laboratorien geschaffenen Hybriden. Einer der größten Genspezialisten, das ist Crake. Sein tätige Kreativität modelliert den neuen Menschen: Eine genetische Komposition, die positive Elemente aus der Tierwelt mit den besten des homo sapiens vereint und jene Komponenten eliminiert hat, denen Crake Verantwortung zuschiebt für das Negative in der Menschheitsgeschichte. Dies ist der eine Teil des Plans, den der überlegene Geist als Alternative der überbevölkerten, an sozialen und ökologischen Widersprüchen erstickenden Welt gegenüberstellt.

ORYX UND CRAKE als Taschenbuch bei amazon bestellen
Nach Oryx und Crake, dem ersten Teil der sog. MaddAddam-Trilogie folgt mit
Das Jahr der Flut
der zweite Teil

Einen zweiten Teil verschweigt der Wissenschaftler bis zuletzt nicht nur Oryx, sondern auch seinem alten Freund Jimmy. Er soll seinen Kindern eine lebbare Umwelt bereitstellen, sozusagen ihre eigene Insel. Hier sollen sie sich entfalten, ungestört von äußeren Einflüssen, von Ideologien und Mythen, einem Ort, an dem eine Differenzierung von Gut und Böse, keinen Raum hat. Keine Bilder seien ihnen erlaubt von den Dingen und keine Symbole. Doch irgendwann, Jimmy ist auf Erkundungstour in der zerstörten Stadt, vermissen sie Schneemensch. Sie sinnen auf Ersatz, nicht ahnend, dass ihr Schöpfer genau dieses verhindern wollte. Das Schaffen von Symbolen führe in religiöse Phantasmagorien, ein Grundübel.

Dies ist die große Geschichte, aber in ihr sind viele kleine verborgen. Das beherrscht Margaret Atwood meisterlich: Geschichten zu erzählen. Angepasst an das jeweilige Milieu, den jeweiligen Jargon vermitteln sie glaubhaft dem Leser auch die unwahrscheinlichsten Inhalte. Ob coole Chatroomsprache eher jugendlicher Menschen, die vielleicht ein wenig überstrapaziert wird oder die in Schwerelosigkeit umgesetzte Magie, wenn von Oryx erzählt wird. Zwischen diesen beiden Polen entwickelt die Autorin eine kaum zu überbietende sprachliche Vielfalt, die jeder aufgeworfenen Perspektive jene Glaubhaftigkeit verleiht, die sie diesseits der Grenze belässt zwischen deskriptiver Bereicherung des dominanten Erzählstrangs und bloßer Geschwätzigkeit.

ORYX UND CRAKE als Taschenbuch bei amazon bestellen
2014 erschien der letzte Teil der Trilogie:
Die Geschichte des Zeb:

Zur Rezension >

Und um die eingangs aufgeworfene Frage zu beantworten: Margaret Atwood beschränkt sich nicht auf die Wiedergabe der Geschichte der drohenden Katastrophe und den Versuch des ambitionierten Wissenschaftlers, diese abzuwenden und sie dadurch in Wahrheit auszulösen. Die Autorin widersteht der Versuchung, sich in der Beschreibung des (pseudo-)wissenschaftlichen Experiments ihrer Wilden Kinder zu verlieren. Sie geht viel weiter, indem sie von der Schönheit der Sprache erzählt und von der Angst vor deren Verlust, vom Ineinanderwirken menschlicher Sinne, und ganz nebenbei entwirft sie in brillanter Skizze die Dreiecksgeschichte von Oryx, Crake und Jimmy. Die vogelgleiche Oryx bleibt immer in der Distanz, schwebend und reizvoll, Körper und mehr noch Geist, nahezu ätherisch und unfassbar für den Leser wie für ihre Verehrer, niemals zum Besitz von Crake oder Jimmy verkommend. Letztere repräsentieren das Gegensatzpaar der Welt der Dinge und der Gefühle. Crakes Neigung, in jedem Ursprung bloße Wirkung biochemischer Prozesse zu erkennen, erscheint in der detaillierten Darstellung niemals simpel. Wahrhaft komplex hingegen wirkt Jimmys Innenleben, das einer Dokumentation gleich ausgebreitet wird: Die Geschichte einer Schizophrenie.

Bis zuletzt verkennt der Erzähler die Notwendigkeit einer Entscheidung zwischen Jimmy, dem Jungen, der gemeinsam mit Crake aufgebrochen ist, um lustvoll Welt zu erfahren und der Verantwortung als Schneemensch, der für das Wohl von Crakes Kindern zu sorgen hat. Das Ende des Romans stellt Schneemensch/Jimmy folgerichtig ein letztes Mal vor diese Entscheidung: Enttäusch mich nicht, flüstert Crake ihm zu.

(Originaltitel: »Oryx and Crake«)

07/2003 © by Janko Kozmus

linie
ZUMPORTRAIT
linie
Weitere Rezensionen zu anspruchsvoll phantastischer Literatur auf der Marabout-Seite (Auswahl)

Margaret Atwood: Unerwartete Allianzen (zu: Die Geschichte von Zeb)

Michail Bulgakow: Ein Teil von jener Kraft ... (zu: Der Meister und Margarita)

Alban Nikolai Herbst: Vom Argonauten zum Infonauten (zu: Buenos Aires. Anderswelt)

Aldous Huxley: B-Picture mit philosophischem Rahmen (zu: Affe und Wesen)

Denis Johnson: Die Kubaner werden kommen (zu: Fiskadoro)

Alan Lightman: Einsteins Träume (zu: Und immer wieder die Zeit)

Guido Morselli: Karpinsky hilf! (zu: Dissipatio humani generis)

Marlen Haushofer: Die einzige Frau (zu: Die Wand)

Haruki Murakami: Ratte und Schaf (zu: Wilde Schafsjagd)

Haruki Murakami: Von der Phantasmagorie zur Allegorie  (zu: Tanz mit dem Schafsmann)

Haruki Murakami: Über den Unterschied von Symbolen und Zeichen (zu: Sputnik Sweetheart)

Pola Oloixarac: "Hacker oder Beherrschte" oder Schrecklich schöne (Unter-)Welt (zu: Kryptozän)

Ahmed Khaled Towfik: Eine dünne Kruste (zu: Utopia)

linie
ZUMPORTRAIT
linie
linie