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Oloixarac: Kryptozaen
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Rezension: Pola Oloixarac - Kryptozän

"Hacker oder Beherrschte" oder Schrecklich schöne (Unter-)Welt

Auf drei Zeitebenen, denen jeweils eine Hauptfigur zugeordnet ist, entfaltet sich die Handlung in Kryptozän, dem zweiten Roman der argentinischen Schriftstellerin Pola Oloixarac: 1882 Niklas, 1983 Cassio und 2024 Piera. Dabei geht der mittlere Abschnitt inhaltlich fließend in den letzten, in der nahen Zukunft liegenden über; in diesem besetzt neben Piera weiterhin Cassio, der eigentliche Held dieses außerordentlichen Buches, die tragende – oder sollte es heißen: tragische? – Rolle. Mit der Nennung von DNA-Datenbanken, Bionosen oder Mutationsindexen schlagen dem Leser gewichtige Reizwörter aus dem Biotech-Bereich entgegen, die ihn einerseits erahnen lassen, welche Sparte der Protagonist, der geniale Hacker Cassio zu okkupieren sich anschickt und die ihn andererseits zu einer sehr aufmerksamen und kritischen Lektüre zwingen, da er zweierlei befürchtet: einen Einsatz des Instrumentariums durch die Autorin mit dem Ziel des billigen Effekts oder aber, innerhalb der Fiktion verbleibend, um auf mögliche Tendenzen von Bio-Politik von Staats wegen hinzuweisen. Im letzteren Falle wehen ihm große Namen wie Michel Foucault, Giorgio Agamben oder Slavoj Zizek entgegen, Philosophen, die der akademisch einschlägig vorgebildeten Oloixarac mit Sicherheit bekannt sind. Spruchbildend auf des Helden T-Shirt zusammengefasst heißt dies: Hacker oder Beherrschte. Doch der Reihe nach.

Gleich zu Beginn, im fiktiv-historischen Teil, wird der Leser an einen der thematischen Schwerpunkte herangeführt, der sich wie eine Doppelhelix durch den gesamten Roman windet und in unmittelbarem Zusammenhang zu besagten Reizwörtern steht, den DNA-Austausch. Auch der nächste Teil beginnt mit einem solchen, der Zeugung von Cassio. Dabei wechselt die Beschreibung des Paarungsverhaltens hin zu einer eher analytisch-lakonischen und sexuell freizügigeren, den Zeitläuften angepassten Form, während sie im ersten Abschnitt noch die der nüchtern-analytischen Wissenschaftsprache des 19. Jahrhunderts amüsant nachahmt. Der Austausch von DNA vollzieht sich jedoch nicht ausschließlich auf dem Wege der natürlichen Zeugung innerhalb einer Art, vielmehr in mannigfaltiger Weise zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen und zwar in jedweder Richtung. Insbesondere im fiktiv-historischen Teil, der in der Aufzeichnung De Flora Suberranea des Niklas Bruun gipfelt, wird der Leser in einen Mahlstrom der fantastischen Möglichkeiten hineingerissen. Er wird Zeuge einer Hybridisierung, die herkömmliche Vorstellungen evolutionärer Umwälzung über den tradierten Haufen wirft und ihn an so manche fiktionale Verwandlung erinnert, sei es in der vorgeblich hohen oder der unterhaltenden Literatur oder im Gothic-Roman, wenngleich die im vierzigsten Lebensjahr stehende, schon für ihren Erstling hochgelobte Autorin den Blick mehr auf das Produkt der Metamorphose richtet als auf deren Prozess, der um so mehr die Leerstellen im Kopf des Lesers mit Magie auflädt. "Alles kann sich jederzeit in etwas anderes verwandeln", sagt ein ganz unfassbares Wesen gegen Ende des Romans.

Neben der angedeuteten wissenschaftlichen und politischen enthält der Roman selbstredend auch eine persönliche Perspektive, in der im sozialen Umfeld vergnüglich Profile geschärft und abgeschliffen werden. Beständig in einiger Distanz zu ihren Figuren verharrend, ohne diese zu verraten, beschreibt die Autorin diese mit satter Ironie, was die Abläufe der Viten, in vorderster Reihe die von Cassios Mutter und ihm selbst, dann die seiner Freunde und Kollegen oder eigentlich Konkurrenten und die seiner Objekte des Begehrens ungemein auflockert, wie das Erdreich, auf dem Niklas Bruun wandelt. Immer wieder kehren die Gedanken des Lesers zurück zu jenem fiktiv-historischen Abschnitt, der in mehreren Teilen eingeschoben wird. Lange wirkt dessen Ausstrahlung nach, so faszinierend das dort Dargebotene: eine schrecklich schöne Unterwelt, buchstäblich. Denn was da kreucht und fleucht, was da im modrig Schleimigen erblüht und duftet oder üblen Geruch verbreitet, findet Nahrung im Untergrund eines ausgedehnten Höhlensystems, das weit in den westlichen Atlantik hineinreicht.

Fast überflüssig zu erwähnen, dass in einem intelligent strukturierten Erzählwerk sämtliche Perspektiven einander durchdringen. Spätestens mit dieser Einsicht verflüchtigen sich endgültig jene misstrauischen Gedanken: Will die Autorin, die immerhin u.a. in New York Times, BBC und Rolling Stone publiziert, sich zuallererst als Kultautorin etablieren? Inwieweit stellt ihr Buch, mit einer Vielzahl von Referenzen und Sprüchen bestückt, eher einen unzusammenhängenden, mit einer Prise Science fiction und Sex gewürzen Textverschnitt dar als ein literarisches Werk? Sämtliche Zweifel verflüchtigen sich in den wenigen übrig gebliebenen Ritzen eines komplex geschichteten Ganzen! Zurück zu den angesprochenen Ebenen.

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Der mögliche Missbrauch wissenschaftlicher Errungenschaften für politische Zwecke wurde bereits angeführt. In diesem Kontext werden konkrete Entwicklungen in Nachkriegsargentinien nachgezeichnet, angefangen bei der Aufnahme von deutschen, nationalsozialistisch vorbelasteten Wissenschaftlern, über die Einrichtung einer der weltweit größten DNA-Datenbänke, die ursprünglich zur Klärung der Fälle der Desaparecidos, der Verschwundenen in der Diktatur der zweiten Hälte des 20. Jahrhunderts dienen sollten, bis hinein in die nahe Zukunft, als sich auf der Grundlage der nationalen DNA-Datenbank jene überregionale entwickelt, das sog. LAT-AM-Projekt. Aus letzterem wiederum entsteht eine private Firma namens STROMALITHON, gegründet von Max Lambard, Cassios größten Hacker-Rivalen. Schließlich wird Cassio von diesem überredet, in diese einzusteigen, obwohl er ahnt, dass Max "am Busen des Staats" irgendetwas nicht Lupenreines ausheckt. Und der Missing Link? Genau: eine begehrenswerte und überaus scharfsinnige Frau, jene Piera, der ein ganzer Abschnitt im Roman zugeordnet ist. Privat-Persönliches erstreckt sich ins Politische und letztlich ins Ethische, als es um die Frage geht, ob es zu verantworten sei, Machbares, die Synthese von biologischen und Computerviren, auch dann zu vollziehen, wenn die Konsequenzen unabsehbar sind.

Die argentinische Autorin hat mit diesem Roman einen spekulativen, jedoch ungemein intelligenten Beitrag geleistet zu den von Menschen verursachten Veränderungen auf unseren Planeten. Während sich die Wissenschaft allmählich darauf einigt, dass mit den ersten Atomversuchen das Erdzeitalter des Menschen, das Anthropozän, angebrochen ist, hat Pola Oloixarac längst das Kryptozän ausgerufen.

(Originaltitel: Las constalaciones oscuras)

01/2017 © by Janko Kozmus

Der Herausgeber von Kryptozän, der Verlag Klaus Wagenbach, betreibt in Zusammenarbeit mit der Autorin einen  gleichlautenden BLOG.

 

GEDANKEN AM RANDE DER LEKTÜRE VON KRYPTOZÄN:

Einer der weltweit größten Erzähler anspruchsvoll phantastischer Literatur ist zweifellos Oloixaracs argentinischer Landsmann Jorge Luis Borges. Er hat neben der Arbeit an seinem umfangreichen Werk noch Zeit gefunden, Literatur aus dem Englischen und mit Kafka aus dem Deutschen zu übersetzen. Er wird noch immer als Autor der Übersetzung von Die Verwandlung genannt (z.B. in der deutschen Wikipedia), spanischer Titel: La metamorfosis. In einem Gespräch mit dem Autor und Landsmann Fernando Sorrentino wird er auf die Abweichung im Titel der Kafka-Erzählung angesprochen. Seine Antwort ist erstaunlich: Das sei der Tatsache geschuldet, dass er nicht der Übersetzer dieses Textes sei. Als Beweis diene, neben seinem Wort, der Umstand, dass er einiges über die deutsche Sprache wisse, er wisse das Werk sei mit Die Verwandlung und nicht mit Die Metamorphose betitelt und er wisse, es hätte entsprechend übersetzt werden müssen. Aber der französische Übersetzer habe es, möglicherweise als Hommage an Ovid, als Metamorphose übertragen. Und man habe es im Spanischen ihm gleichgetan. Er, Jorge Luis Borges, habe im Übrigen nicht Die Verwandlung selbst, wohl aber die anderen Erzählungen in dem Band übertragen.- Vgl. S. 69, in: Fernando Sorrentino, Seven Conversations with Jorge Luis Borges, translated by Clark M. Zlotchew, Philadelphia 2010.

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