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ATWOOD: ORYX UND CRAKE

Gedanken zu → Margaret Atwoods MaddAddam-Trilogie anlässlich des Erscheinens des letzten Teils: Die Geschichte von Zeb

Unerwartete Allianzen

Nicht wenige Literaturinteressierte waren im vergangenen Oktober überrascht von der Entscheidung des Nobelpreiskomitees für Literatur. Sollte der Preis nach Kanada gehen, so die Annahme, würde er den Schriftstellerinnen zugesprochen, die die beiden Pole der Gattung Prosa einnehmen. Der Ausgang ist bekannt, nur eine der beiden wurde ausgezeichnet und nicht die Vertreterin der großen, sondern die der kleinen Form, der Kurzgeschichte. Möglicherweise lag die Entscheidung unter anderem darin begründet, dass sich Margaret Atwood mit ihren letzten Romanen sehr weit ins Feld der Beschreibung denkbarer Zukunftsszenarios gewagt hat. Zwar wird ihr Schreiben allgemein nicht dem Genre der Science Fiction oder der Phantastik zugeordnet, doch müssen utopische – oder wie in diesem Fall anti-utopische – Romane beständig gegen die Stigmatisierung ankämpfen, Teil der trivialen, mithin nicht der eigentlichen, der "hohen Literatur" anzugehören, wenngleich diese Tendenz in der englischsprachigen Literatur weniger ausgeprägt ist als im Bereich der deutschsprachigen.

Seit Kurzem liegt der dritte und letzte Band der MaddAddam-Trilogie von Margaret Atwood vor. Eröffnet wurde die Dystopie mit dem Roman Oryx und Crake. Die Fiktion beschrieb den Beginn vom Ende der Menschheit, eingehüllt in einen geheimnisvollen Zauber. Widersprüchliche Charaktere sorgten für spannende Lektüre, Figuren wie Crake und Schneemensch-Jimmy oder dieses bezaubernde Wesen: die vogelgleiche Oryx, begehrt von den konkurrierenden Männern. Crake der ideologisierende Wissenschaftler, der im Versuch die Welt zu retten diese nahezu auslöscht und der mit viel Empathie ausgestattete Schneemensch-Jimmy. Nicht ganz aus freien Stücken kümmert sich dieser um die von seinem Jugendfreund im Genlabor erschaffen Craker, diese neuen Menschenwesen, deren Unterkörper im Erregungszustand blau aufleuchten. Das Forschungszentrum als Geburtsstätte ist eingebettet in die Welt der globalen Konzerne, des Überflusses, des Reichtums.

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Oryx und Crake
1. Teil d. Trilogie
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Der zweite Band, Das Jahr der Flut, stellt, wenn man so will, den Gegenpol dar, die Antithese. Während im ersten Band die zur Oberschicht zählende Forscherclique im Vordergrund stand, wird hier der Blick auf Plebsland gelenkt. Derselbe Zeitraum, der des Zusammenbruchs, wird aus der Perspektive "von unten" noch einmal beschrieben. Das Personal setzt sich vornehmlich aus Außenseitern zusammen, Türstehern, Luden, Prostituierten und anderen vom Schicksal wenig schmeichelhaft Behandelten. Ihnen gegenüber stehen die sog. Gottesgärtner. Sie bilden eine Sekte, die neben dem Duft von Honig auch den an eine moralinsaure Truppe voller Prüderie erinnernden verbreitet. Bei genauerer Betrachtung ihrer Zusammensetzung stellt sich heraus, fast sämtliche Mitglieder, symptomatisch für nahezu jede Gruppe, sehen sich selbst als Außenseiter, nicht wirklich dazugehörig. Sie haben aus den unterschiedlichsten Gründen hier Unterschlupf gefunden, in den wenigsten Fällen entsprang der Beitritt einer Identifikation mit den hehren ökologisch-spirituellen Zielen der Gruppe. Das gilt auch für Toby und Zeb, den Halbbruder von Adam. Hier setzt die Skizzierung dieser im Romanverlauf an Bedeutung gewinnenden Figuren ein, im dritten Teil werden sie dann in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Dort offenbart die Autorin im Feinschliff der Charakterzeichnungen die Verletzlichkeit dieser zunächst beiläufig und eher rau gestalteten Figuren, ohne diesen untreu zu werden.

Der jüngst in der Übersetzung von Monika Schmalz erschienene dritte Band schließt inhaltlich an die ersten beiden Romane an. In Struktur und Form gleicht er seinen Vorgängern. Erzählt wird aus unterschiedlicher zeitlicher Distanz zur Katastrophe. In Rückblenden wird der Zustand unmittelbar davor als ein desaströser, ökologisch verrotteter und entmenschlichter dargestellt und insofern als ein – verdientermaßen – zum Untergang verurteilter. Nach dem Zusammenbruch dann richten sich die Überlebenden ein, belauern einander, bekriegen sich gar, schließen unerwartete Allianzen. Neben dem oben erwähnten hilfsbedürftigen Schneemensch-Jimmy, stets von seinen schutzbefohlenen Crakern in Zuversicht auf eine Heilung "beschnurrt", wird von den ehemaligen Gottesgärtnern Toby und Zeb sowie den anderen, die in freundschaftlichem Kontakt zu den Crakern stehen, in die neu geformte Gruppe aufgenommen.

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Nach Oryx und Crake, dem ersten Teil der sog. MaddAddam-Trilogie folgt mit
Das Jahr der Flut
der zweite Teil.

Der Titel Die Geschichte von Zeb kündigt es an: Im dritten Teil von Margaret Atwoods Dystopie ist vor allem von Zebs Leben die Rede. Er selbst erzählt seiner Geliebten Toby davon. Seine Geschichte ist auf vielfältige Weise mit den Biografien der anderen tragenden Figuren der Trilogie verwoben, zuallererst mit der von Adam. Ein ungleiches Bruderpaar stellen sie dar, das aber gleichermaßen unter den fragwürdigen Erziehungsmethoden des Vaters, eines Predigers, leidet. Viel später wird Adam – nach der gemeinsamen Flucht aus dem Elternhaus – die von ihm begründete Gemeinschaft der Gottesgärtner anführen, bevor auch Zeb nach manchen Irrwegen dort eine neue innere Heimat findet. Doch bevor es soweit ist, lernt er in einer untergeordneten Stellung in den Forschungslabors von CorpSeCorps den jungen Crake kennen. So wird eine neue Facette des jugendlichen, des idealistischen Crake aufgezeigt und erneut sein Wandel zum größenwahnsinnigen Wissenschaftler als nicht unabdingbare Zwangsläufigkeit, vielmehr als eine Laune des Zufalls unterstrichen. Die Taten des Schöpfers neuer Wesen und Menschheitszerstörers lassen sich nicht auf eine schicksalhafte Banalität zurückführen. Im Übrigen korrespondiert diese Szene mit einer anderen im vorangegangenen Band Das Jahr der Flut: Eine Gottesgärtnerin macht ihrem Krebsleiden mit einem selbstgebrautem Gift ein Ende. Gesetzeswidrig wird sie bei hellem Tageslicht in einem Park unter einem Holunderbusch beigesetzt. Unter dem Deckmantel von Gartenarbeit wird sie in einer am Vortag ausgehobenen Grube verbuddelt Zur Ablenkung neugieriger Blicke werden von ihren Genossen erfolgreich Störmanöver inszeniert. Nur ein junger Mann lässt sich davon nicht beirren und starrt unverwandt auf das kaschierte Begräbnis. Auch ohne Namensnennung weiß der Leser, um wen es sich hier handeln muss: Glenn, wie Crake zu diesem Zeitpunkt noch heißt, trauert um seine mütterliche Freundin, die ehemalige Laborangehörige Pilar. Einer der wenigen – leisen – Auftritte, die diesem im zweiten Teil der Trilogie eingeräumt werden. Zurück zum letzten Band.

Inwieweit Die Geschichte von Zeb die inhaltlichen Gegensätze der ersten beiden Romane in eine Synthese zu überführen imstande ist, mag der Leser selbst entscheiden, Ansätze zur Einlösung einer solchen Verschmelzung sind jedenfalls vorhanden. Fragen, die im ersten bzw. zweiten Band aufgekommen waren, werden beantwortet, und es werden, wie nicht anders zu erwarten, neue aufgeworfen. Einleitende Seiten fassen das Geschehen der ersten Bände zusammen. Darüber hinaus füllt die Autorin mit Exkursen immer mal wieder eventuelle Lücken des Lesers, der die ersten Bände nicht kennt oder sich an einzelne Teile nicht mehr erinnern kann. Somit ist Die Geschichte von Zeb auch als eigenständige Lektüre durchaus geeignet. Der Genuss in voller Bandbreite entfaltet sich, wenn dem Leser jene kleine Freude zuteil wird, die sich in einem entzücktem „Ach so!“ entlädt, da er dieses oder jenes Detail aus den ersten Bänden nun im Kontext einer breiteren Ausleuchtung neu aufglänzen sieht. Nicht selten gelingt es der Autorin dabei – Klischees vermeidend – zu überraschen.

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Unerwartete Allianzen
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Wie in den ersten beiden Bänden so wird auch im dritten die Erzählperspektive facettenreich gesplittet und gegen Ende gesellt sich eine neue und überaus verblüffende hinzu, eine – ohne mehr verraten zu wollen – gewissermaßen blau schimmernde! Und wie auch die ersten beiden Romane der Trilogie gibt sich Die Geschichte von Zeb ironisch frech, bunt schillernd und skurril humorig. Darüber hinaus setzt die souveräne Meisterschaft der Margaret Atwood in den zeitlichen Sprüngen eine Lebendigkeit, in der vermeintlichen Schlichtheit einer Alltagschronik eine Frische und in den Charakterzeichnungen eine Differnziertheit, dass der hellwache Leser neben dem Lektüregenuss des Hauptstrangs der Erzählung zwischen den Zeilen von so manch origineller Pointe gekickt wird.

Und wie verhält es sich mit der letzten, der großen Pointe: Geht das Ganze nun den Bach hinunter oder ist der Same gelegt für eine neue blau-wackere Welt?

(Originaltitel: »MaddAddam«)

04/2014 © by Janko Kozmus

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